Einführung

Dossier

Der Südwesten ist ein Hotspot für rechtspopulistisches Gedankengut. Die Proteste gegen die Maßnahmen, die die Corona-Pandemie einbinden sollen, haben das einmal mehr gezeigt. Starke rechtspopulistische und rechtsextremistische Kräfte sind daran beteiligt und hatten ihren Ausgangspunkt in Stuttgart. Schon in der Vergangenheit nahmen hier Rechtspopulist*innen an Straßenprotesten wie etwa der „Demo für alle“ teil, die sich gegen einen neuen Bildungsplan der damaligen grün-roten Landesregierung richtete.

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Achtung

Aber auch auf der politischen Ebene konnten Parteien am rechten Rand des Parteiensystems im Land immer wieder reüssieren – die rechtsextremistische NPD schaffte 1968 für eine Wahlperiode den Sprung in den baden-württembergischen Landtag, den Republikanern gelang in den neunziger Jahren gar ein einmaliger Wiedereinzug. Die rechtspopulistische AfD hat bei der letzten Landtagswahl in Baden-Württemberg ihr bestes Ergebnis in einem westdeutschen Bundesland erzielt.

Für die Demokratie und die politische Kultur im Land hat das Konsequenzen. Der populistische Diskurs spricht Ängste vor Veränderung in einer komplexer werdenden Gesellschaft an und bietet als Lösung oft den Rückgriff auf nationale und völkisch geprägte Denkweisen. Schuld an den Fehlentwicklungen sind in dieser Sicht neben der politischen Elite Einwanderer*innen, Minderheiten, die Europäische Union und die Globalisierung. Der rechte Populismus richtet sich so gegen die offene, tolerante und vielfältige Gesellschaft, für die in den letzten Jahrzehnten viele unterschiedliche emanzipatorische Bewegungen gekämpft haben. Das populistische „Wir“ definiert exklusiv, wer dazugehört – und wer eben nicht. Die Vielfalt an kulturellen Prägungen, Lebensstilen und Herkünften, die eine moderne Gesellschaft auch in Baden-Württemberg auszeichnen, wird als Bedrohung beschrieben. Dem gegenüber stellen sich die Rechtspopulist*innen als Interessenvertreter*innen eines wahren und homogenen Volkes dar und beanspruchen, dieser angeblichen "schweigende Mehrheit" eine Stimme zu geben. Die Wahlergebnisse zeigen, dass dieser schlichte Diskurs in Teilen der Wählerschaft verfangen – und so die Gesellschaft auseinander treiben kann.

Eine rechtspopulistische Partei im baden-württembergischen Landtag wirkt sich drastisch auf die politische Kultur aus. Wo zuvor der zivilisierte Streit zwischen demokratischen Fraktionen üblich war, werden seit dem Einzug der AfD bislang unbekannte völkische und hasserfüllte Töne angeschlagen. Die Angriffe auf die Landtagspräsidentin Muhterem Aras, die wegen ihrer Herkunft verunglimpft wurde, sind nur ein Beispiel dafür.

Wir möchten einen fundierten Überblick über die verschiedenen Erscheinungsformen des Rechtspopulismus in Baden-Württemberg geben. Bürger*innen und Zivilgesellschaft wollen wir Material für ihre kritische Auseinandersetzung mit demokratiefeindlichen Entwicklungen zur Verfügung stellen. Denn profundes und belegbares Wissen über Ideologie, Struktur und politische Praxis des Rechtspopulismus in Baden-Württemberg ist eine wesentliche Voraussetzung, um eine politische Haltung zu entwickeln und Kritikfähigkeit, Urteilskraft und eigenes Engagement zu stärken.

 

Wir bieten kritischen Stimmen aus Journalismus, Zivilgesellschaft und Politik mit diesem Dossier ein Forum. Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft erforschen Organisationsstrukturen, politische Inhalte und historische Kontinuitäten sowie das ideologische Umfeld des Rechtspopulismus in Baden-Württemberg.

Lucius Teidelbaum und Annette Wagner zeichnen in ihrem Beitrag die organisatorische und ideologische Entwicklung der AfD im Südwesten nach.

Annette Wagner untersucht gemeinsam mit Sven Ullenbruch Politik und parlamentarische Praxis der AfD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg. Der Einzug der AfD in den baden-württembergischen Landtag 2016 hat die Stimmung im Landesparlament grundlegend verändert.

Uli Sckerl, parlamentarischer Geschäftsführer der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, erläutert im Interview, wie sich die demokratischen Fraktionen der populistischen Herausforderung stellen.

Anton Maegerle dokumentiert in seinem Text die vielfältigen Verbindungen der rechtspopulistischen Partei im Südwesten in das extrem rechte Lager.

In einem weiteren Beitrag diskutiert er historische Kontinuitäten am rechten Rand des baden-württembergischen Parteiensystems.

Beate Müller-Gemmeke beschäftigt sich mit den Bestrebungen, rechtspopulistisch geprägte Arbeitnehmervereinigungen aufzubauen, die zum Teil Schwerpunkte auch in Baden-Württemberg haben.

Die umwelt-, wirtschafts- und sozialpolitische Programmatik der baden-württembergischen AfD steht im Fokus der beiden Beiträge von Rolf Gramm.

Geschlechterrolle rückwärts – unter diesem Titel analysiert Rebekka Blum die antifeministische Programmatik der AfD.

Am Beispiel der Stuttgarter KONTEXT:Wochenzeitung beschreibt Anna Hunger den wachsenden Druck, den rechtspopulistische Kräfte auf kritische Medien ausüben.

Zum ideologischen Umfeld der rechtspopulistischen Strömung zählen eine ganze Reihe einschlägiger Medien und Verlage, von denen einige ihren Sitz im Südwesten haben. Anton Maegerle stellt in seinem Beitrag die Wichtigsten vor und zeigt Verbindungen und Netzwerke auf.

Wie passen (Rechts-)Populismus und der Glaube an Verschwörungsmythen zusammen? Dieser Frage geht Laura Hammel in ihrem Text insbesondere mit Blick auf die im Südwesten stark verankerte „Querdenken“-Bewegung nach.

Gemeinsam mit Lucius Teidelbaum betrachtet Laura Hammel in einem weiteren Text die Schnittmengen zwischen Rechtspopulismus und der christlichen Rechten im Baden-Württemberg. Auch für eine solche ideologische Melange erweist sich der Südwesten als besonders empfänglich, das wird an Teilen der „Demo für alle“ deutlich.

Andreas von Bernstorff räumt in seinem Artikel Ökologie von rechts - Von der deutschen Nationalromantik bis zur AfD mit dem Missverständnis auf, dass Umweltschutz häufig als historisch junge Bewegung begriffen wird - entstanden im alternativ-grünen Milieu der 1970er Jahre.

Timo Büchner recherchierte zum völkischen Ludendorff-Netzwerk in Baden-Württemberg, das die antisemitische und rassistische Ideologie von Mathilde Ludendorff (1877–1966) verbreitet; es ist Teil der extremen Rechten und seit Jahrzehnten in Deutschland aktiv.

Lucius Teidelbaum betrachtet die „Neue Rechte“, die häufig zur Erklärung einer aktuellen Entwicklung herangezogen und meist mit dem Begriff „Rechtsruck“ bezeichnet wird. Zu Recht wird häufig eingewandt, dass es sich dabei eher um eine Aktivierung und Bündelung bereits länger vorhandenen Potenzials auf der Einstellungsebene handelt.

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Alle Beiträge - bis auf Ökologie von rechts - Von der deutschen Nationalromantik bis zur AfD - wurden im Sommer 2020 abgeschlossen. Weitere Entwicklungen sind deshalb nicht berücksichtigt.

Wir möchten allen Autor*innen für ihre engagierte Mitarbeit an diesem Dossier herzlich danken.


Stuttgart, aktualisiert im November 2021

Rolf Gramm, Stellvertretender Vorsitzender der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg

Dr. habil. Andreas Baumer, Geschäftsführer der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg