Bitte wenden! Verkehrswendekonferenz Süd

Veranstaltungsbericht

Stuttgart ist das Paradebeispiel einer autogerechten Stadt. Wenn hier Verkehrswende geht, geht es überall. Und wie, das diskutierten 120 Teilnehmer/innen am 16. November bei der Verkehrswendekonferenz Süd.

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Podium auf der Verkehrswendekonferenz Süd

Warum ausgerechnet eine Verkehrswendekonferenz in Stuttgart, der Hauptstadt des Feinstaubs? Sabine Drewes von der Heinrich-Böll-Stiftung begründete dies mit der Größe und Symbolik der Herausforderung. „Stuttgart ist ein Brennpunkt der Verkehrswende. Wenn es in Stuttgart, diesem Paradebeispiel einer autogerechten Stadt, geht, geht es überall“, befand in ihren Begrüßungsworten. Und - wie Oberbürgermeister Fritz Kuhn später deutlich machte - die offene Kommunikation von Problemen kann auch ein Motor für Entwicklung sein - durch die Politik ebenso wie durch eine aktive Zivilgesellschaft, die Veränderungen einfordert und mitgestaltet.

Diese Entwicklung, betonte Rolf Gramm - Vorstandsmitglied der Heinrich Böll Stiftung BW - in seiner Einführung, dürfe nicht allein auf „E-Mobility und Big Data“ setzen. Mehr Lebensqualität erreiche man nur mit einer umfassenden „Mobilitätswende“, die weniger auf individuellem Autoverkehr, dafür mehr auf „vernetzter“ und „kollaborativer“ Mobilität basiere.

Warum brauchen wir die kommunale Verkehrswende?

Diese Frage beantwortete Winfried Hermann, grünes Landtagsmitglied und Verkehrsminister von Baden-Württemberg in seiner politischen Auftaktrede. Staus, Gefahrensituationen, Schadstoffausstoß und Flächenverbrauch prägen unser derzeitiges Verkehrssystem, das in dieser Form schlicht „nicht zukunftsfähig“ sei. Die Tatsache, dass das Thema Verkehr nun auf öffentlichen Konferenzen diskutiert und nicht mehr stiefmütterlich „im kleinen Kreis in Nebenzimmern“ abgehandelt würde, sei ein positives Signal. Weitaus weniger optimistisch blickte Hermann hingegen auf die Zielvorgaben des Klimaschutzplans der Bundesregierung und des Pariser Klimaschutzabkommens. „Weitgehende Treibhausneutralität“ und eine Klimaerwärmung um höchstens zwei Grad bis 2050 setze für den Verkehrssektor eine Senkung der Treibhausemissionen um mindestens -40% voraus. Und im Bereich der Energiewirtschaft schon verstärkt auf dem Weg ist, gelang im Handlungsfeld Verkehr noch nicht. Als einziger Sektor wurden hier zwischen 1990 und 2017 kein CO2 eingespart, die Zahl der Emissionen war zuletzt sogar gestiegen. Das gilt auch für Baden-Württemberg. Das „Ländle“ habe daher die Klimaziele der Bundesrepublik mit einem eigenen Zielkatalog konkretisiert: Der öffentliche Nahverkehr solle verdoppelt werden. Es soll ein Drittel weniger Kfz in Städten geben. Jedes dritte Auto soll klimaneutral fahren. Jeder zweite Weg soll zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt werden. Doch obwohl hier „seit sieben Jahren eine andere Verkehrspolitik“ gemacht werde, habe sich an den messbaren Zahlen „nichts geändert“. Deutlich machte Minister Hermann das auch mit einer Statistik zur Verkehrsmittelwahl der Baden-Württemberger („Mobilität in Deutschland“, BMVI, ausgewertet für BW). Zwar fahren minimal mehr Menschen mit dem Fahrrad oder dem ÖPNV, doch der Autoverkehr sank nur um einen Prozentpunkt und - es gehen deutlich weniger Menschen zu Fuß als noch 2008. Ein differenzierter Blick zeigt in manchen Städten auch positive Trends für nachhaltige Verkehrsformen. Das „Großstädte-Ranking“ des Umweltverbundes in BW wird angeführt von Freiburg mit 68% Umweltverbund. Stuttgart steht aber mit einem vierten Platz nicht schlecht da – die Landeshauptstadt hat zwar einen mageren Radverkehrsanteil, schneidet aber beim ÖV und beim Fußverkehr gut an. Die „Es macht einen deutlichen Unterschied, wer wo regiert, und welche Politik gemacht wird“, schloss Winfried Hermann daraus.

Winfried Hermann auf der Verkehrswendekonferenz Stuttgart - Heinrich-Böll-Stiftung

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Seine klare Botschaft: „Je länger wir zögern, umso drastischer werden die Eingriffe. Wir müssen deswegen jetzt handeln“. Das Land setzt sich deshalb ambitionierte Ziele für die Verkehrswende 2030. Maßnahmen zur Förderung des Fußverkehrs durch kürzere und sichere Wege, ein landesweites Radnetz als Teil einer umfassenden Radstrategie, der Ausbau des ÖPNV, und die Entwicklung sauberer Antriebssysteme sollen die Verkehrswende in Baden-Württemberg vorantreiben. Aussicht auf Erfolg könne die Wende aber nur haben, wenn die Bevölkerung mobilisiert, ein „öffentlicher Diskurs entfacht“ und auf politischer Ebene Position bezogen werde. "Die Verkehrswende“, schloss der Verkehrsminister seine Rede, „muss klares Thema im Kommunalwahlkampf 2019 sein“.

Gute Beispiele: Verkehrswende in Zürich

Was in Baden-Württemberg noch eine Vision ist, wird in der Schweiz schon gelebt.

Wie das gelang, darüber gab Ruedi Ott, ehemaliger Leiter für Mobilität und Planung im Tiefbauamt der Stadt Zürich, einen Einblick. Motor der Verkehrswende in der Stadt und dem Kanton Zürich waren basisdemokratische Entscheidungen durch Städteinitiativen und Volksabstimmungen. Schon 2011 entschieden sich die Züricher Bürger/innen dafür, den Anteil an ÖPNV-, Fuß- und Radverkehr innerhalb von 10 Jahren um 10%-Punkte zu erhöhen. Für Ruedi Ott vor allem ein Beispiel dafür, dass „die Bevölkerung oft viel progressiver denkt als viele Politiker glauben“. Es sei daher entscheidend, die Bevölkerung in solche Prozesse „frühzeitig einzubinden“. Eine Verkehrswende, so Ott, müsse „in ein Gesamtkonzept eingebettet“ sein, als grundlegende Erfolgsfaktoren nannte er schlicht „Konsequenz, Pragmatismus und Vernetzung“. So gibt es in Zürich seit 1990 einen Taktfahrplan und alle öffentlichen Verkehrsmittel von Bus über die Tram bis hin zu Bergbahnen oder Fähren können mit einem Ticket genutzt werden können. Mobilität als Teil der Stadtentwicklungspolitik zeigt sich auch im Züricher Parkraummanagement. Hier greift auch heute noch eine 22 Jahre alte Parkplatzverordnung mit der die Anzahl der Parkplätze in der Innenstadt auf den Stand von 1990 „eingefroren“ wurde. Die Kernaufgabe der Verkehrsplanung, betonte Ott, sei die „Mengenbewältigung im öffentlichen Raum“, wobei dem Fußverkehr, als „erste und letzte Etappe von Mobilität", stets Vorrang eingeräumt werden müsse. Die Gestaltung der Stadträume daher „essenziell“, um eine Gehkultur im öffentlichen Raum zu fördern. Dauerhaft informieren, Anreize setzen, Entscheidungshilfen geben, Angebote machen, und diese positiv und selbstbewusst mit öffentlichkeitswirksamen Instrumenten zu kommunizieren, das steht im Zentrum des Züricher Modells. Und das ist, wie Ruedi Ott unterstrich, eine Daueraufgabe. Eine Verkehrswende ohne nachhaltige Verhaltensänderung der Bürger/innen, ohne einen „Wertewandel hin zu einer neuen Mobilitätskultur“ könne nicht gelingen.

Volksentscheid Fahrrad oder: wie man eine Stadt bewegt

Nun gibt es in Deutschland noch kein „Zürcher Modell“, aber es gibt Menschen wie Heinrich Strößenreuther, die sich unermüdlich für die Verkehrswende engagieren. Dem Agenturinhaber und Fahrradaktivisten gelang es mit einem Team von Gleichgesinnten in Berlin, das bundesweit erste Radgesetz als Teil eines umfassenden Mobilitätsgesetzes auf den Weg zu bringen. Ein Blick über die Landesgrenze zu erfolgreichen Bürgerinitiativen von Fahrradfahrer/(innen in Dänemark und den Niederlanden brachte ihn vor drei Jahren auf die entscheidende Idee - er initiierte die Bürgerinitiative Volksentscheid Fahrrad. Was anfangs utopisch erschien, wurde 2016 zum schnellen Erfolg: In weniger als vier Wochen wurden mehr als 105.000 Unterschriften gesammelt. Alle nun geplanten Maßnahmen, die Erweiterung des Radwegenetzes, der Ausbau der Radschnellwege für Pendler/innen entlang von Hauptstraßen, aber räumlich getrennt vom Autoverkehr, und die Verbreiterung der Fahrradwege auf zwei Meter, werden im Rahmen des Berliner Mobilitätsgesetzes realisiert, das der rot-rot-grüne Berliner Senat ca. zwei Jahre nach dem Volksbegehren verabschiedet hat.

Heinrich Strößenreuther auf der Verkehrswendekonferenz Stuttgart - Heinrich-Böll-Stiftung

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Für Strößenreuther liegt der Verkehrswende ein „Flächenkonflikt“ zugrunde. Der Radverkehr habe in Berlin nur einen Anteil von 3% der Straßenfläche gegenüber dem Autoverkehr, der 60% belegt (fließender und ruhender Verkehr). Die Verkehrswende könne diesen Konflikt nicht zur Zufriedenheit aller lösen; die Flächen gebe es nur einmal, die Flächennutzung müsse umverteilt werden. Umso wichtiger sei die Mobilisierung der Bevölkerung für das Ziel einer nachhaltigen Mobilität. Das Vorbild Berlin macht mittlerweile Schule, es gibt Initiativen für Radentscheide in über zehn deutschen Großstädten. Und was war nun das geheime Rezept für die Berliner Erfolgsgeschichte? Öffentlichkeit schaffen, Bürger/innen mobilisieren und mit hartnäckigem Campaigning Druck auf die Entscheidungsträger/innen aufbauen. Strößenreuthers einfache Gleichung: „Die Politiker/innen müssen mehr Angst vor Radfahrer/innen haben als vor Autofahrer/innen“.

Nach diesen Leuchttürmen aus Zürich und Berlin verwunderte es nicht, dass Verkehrsminister Herrmann in der Diskussion als erstes danach gefragt wurde, ob er bei diesen Schilderungen nicht „Neid“ verspüre. Davon wollte er aber nichts wissen, zeigten die Erfolgsgeschichten doch vor allem, dass sich „mit Schub aus der Bevölkerung etwas bewegen lässt“. Einen kleinen Einblick gab er aber dann doch in die schwierigen Landtagsdebatten zum Thema nachhaltiger Verkehr. Diese wirkten als wären sie „in den siebziger Jahren stecken geblieben“ und in verkehrspolitischen Fragen seien die Positionen von AfD, SPD und FDP „nicht zu unterscheiden“. Heinrich Strößenreuther nutzte die Gunst der Stunde: „Herr Herrmann, darf ich Ihnen dazu unser Verkehrswende-Training anbieten?“ Tatsächlich, so Strößenreuther, sei es bei so festgefahrenen Debatten wichtig, herauszufinden, wer die Unterstützer/innen seien und die eigenen Ideen auch mal „zugespitzt und konfrontativ“ zu kommunizieren. Gerade im „Stuttgarter Kessel“, in dem der Flächenkonflikt „unausweichlich“ sei und progressive Ideen grüner Politiker/innen heftig kritisiert würden, weil jeder Vorstoß ein „Gefühl von Benachteiligung der Autofahrer/innen“ hervorriefe, rät er zur öffentlichen Mobilisierung auf der Straße. Minister Hermann schloss sich dem an und wandte sich in einem Appell direkt an die S21-Gegner im Publikum, die „ihr“ Thema vernachlässigt sahen: „Es gibt ein Leben nach Stuttgart 21!“ Er wünsche sich, dass die Aktivisten ihre Energie nun auf die Förderung und Unterstützung einer neuen nachhaltigen Mobilität in der Stadt kanalisieren würden.

Mit einem Blick auf die konkreten Entwicklungen in Stuttgart zum Ende der Diskussion brachte es Winfried Herrmann auf den Punkt. Am Ende führe kein Weg daran vorbei, dass die Kapazitäten für Autofahrer/innen verknappt werden müssen. Für eine „echte Verkehrswende“, so Hermann, „braucht es Mut!“. Dass es an Mut nicht mangelt, zeigten in der folgenden Workshop-Phase zahlreiche Beispiele aus Stuttgart und dem Ländle.

Lobbyarbeit für engagierte Bürger/innen

Zwei Fragen standen im Mittelpunkt dieses Workshops: Wie erreiche ich Aufmerksamkeit und wie erreiche ich die Politik? Gastgeberin Sabine Drewes lud zwei Referent/innen ein, mit den Teilnehmer/innen darüber zu diskutieren, wie die Interessen von engagierten Bürger/innen in der Öffentlichkeit und auf der Ebene der Politik erfolgreich kommuniziert werden können.

Christine Lehmann, grünes Gemeinderatsmitglied in Stuttgart, betreibt seit 2013 einen erfolgreichen Fahrradblog. Hier bespielt sie alle Themen rund ums Fahrradfahren, lenkt die Aufmerksamkeit der Leser/innen aber immer wieder auf konkrete Problemstellen, die Radfahrende in Stuttgart behindern, seien es unklare Beschilderungen, gefährliche Kreuzungen oder zugeparkte Radwege. Sie zeigte einige Filme in ihrem Blog, die gefährliche oder unsinnige Straßenführungen dokumentierten, die öffentliche Aufmerksamkeit produzierten und schließlich zur Veränderung führten. Durch Vernetzung mit betroffenen Anwohner/innen, Aktionsgruppen oder Bewegungen wie „Critical Mass Stuttgart“ entstünden Aktionen, etwa große Fahrraddemos oder Mahnwachen für fahrradunfreundliche „tote“ Fahrradwege. Durch das Engagement auf der Straße entstehe dann der Kontakt zur Presse. Unerlässlich aber, wenn sich wirklich etwas bewegen solle, sei die Kontaktaufnahme mit der politischen Entscheidungsebene. In politischen Gremien müsse man sich an diejenigen wenden, die von der Sache noch nicht überzeugt wären, also vor allem FDP und CDU. Ausschlaggebend für den Erfolg ihres Blogs, verriet Christine Lehmann, sei die unaufgeregte Schilderung der Realität, ohne „zu übertreiben oder gar zu skandalisieren“. Skandale seien „kontraproduktiv“, dadurch mache man sich nur „Feinde“. Die Filme skandalisierten allerdings durchaus Gefahrenstellen, aber eben auf unaufgeregte Art.

Skandale und Übertreibung, wurde im zweiten Input klar, scheut denn auch Heinrich Strößenreuther nicht. Für seine Mission, „Leute auf’s Rad zu bringen“, zähle bei Aktionen vor allem eine Frage: „Wie bekomme ich das in die Presse?“ - Und das mit Erfolg. Als Mitinitiator des Volksentscheids Fahrrad in Berlin war er am ersten Radgesetz Deutschlands maßgeblich beteiligt. Die Bandbreite von Aktionen, um die Aufmerksamkeit auf das Thema Fahrradkultur zu lenken, sei unbegrenzt, die Straße noch ein „unbespielter Raum“. Möglich sei hier alles von der einfachen Fahrraddemo bis hin zu gewagteren Aktionen, wie dem Umstellen von Baustellenabsperrungen oder dem Abladen von Sand auf Straßen. Hier müsste man allerdings auch bereit sein, mögliche rechtliche Konsequenzen zu tragen und die Polizei dennoch immer als „Freund und Helfer“ zu sehen. Neben dem „Mut“, den es braucht, um Aktionen zu realisieren, plädierte Strößenreuther für eine „starke Sprache“, die auch in der Presse klare Botschaften und Anliegen vermitteln könne.

In der offenen Diskussion waren sich die Workshopteilnehmer/innen darüber einig, dass alle Fakten die Notwendigkeit einer Verkehrswende unterstreichen würden. Es sei daher jetzt entscheidend, mit diesen Fakten interessierte Bürger/innen zu informieren und zu mobilisieren, um mit Druck von unten auf Missstände in der Fahrradinfrastruktur aufmerksam zu machen und eine nachhaltige Verkehrsentwicklung anzustoßen. Die Änderung des Straßenrechts sei ein Schritt, der allgemein gute Zustimmungswerte habe. Heinrich Strößenreuther betonte, dass auch für kleine Aktionen im Vorfeld ein „Drehbuch" konzipiert und auf Zielsetzung, Effektivität und Pressetauglichkeit durchdacht werden sollte. Aus dem Kreis der Zuhörer/innen schloss sich eine Wortmeldung nachdrücklich Christine Lehmanns Empfehlung an, nicht die bereits Sensibilisierten immer wieder anzusprechen, sondern die Bürger/innen und Parteien zu adressieren, die dem Thema Radverkehr und Verkehrswende bisher kritisch oder ablehnend gegenüber stünden. Die Fahrradbloggerin hatte noch einen Ratschlag parat. Die Stadtverwaltung nehme ihre Videos zur Verkehrslage als unterstützende Informationsquelle offen an, und das nicht zuletzt weil sie im Umgang und in der Kommunikation stets freundlich bliebe. „So wird man gehört“, war sie überzeugt. Die kurzfristige Perspektive sei auch klar: Die Kommunalwahlen 2019 stünden an und damit die Chance „der Verkehrswende eine Stimme in der Politik zu geben“ und ein Zeichen zu setzten für nachhaltige Mobilität.

Radengagement als Treiber der Verkehrswende in Städten

„Wenn von unten nichts kommt, verändert sich nichts“ war der Grundtenor des Workshops mit Gastgeber Hermino Katzenstein. Der Vorsitzender des Arbeitskreises Verkehr der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Landtag Baden-Württemberg engagiert sich auch im Allgemeinen Deutscher Fahrrad Club (ADAF). Ihm selbst sei das Radfahren „in die Wiege gelegt“ worden. Das Ziel des Workshops war, Zutaten für erfolgreiche Radkampagnen zu sammeln.

Kampagnen und öffentlichkeitswirksame Aktionen sind das täglich Brot von Journalistin Susanne Keller. Sie ist ehrenamtliche Mitarbeiterin und Vertrauenspersonen der Initiative „Radentscheid Stuttgart“. Der Entscheid fordert von der Stadt Stuttgart die Umsetzung einer fahrradfreundlichen Verkehrspolitik und sicher gestaltete Straßen und Radwegen für alle, inklusive Kinder und ältere Menschen. Die aktuelle Situation in der Hauptstadt bewertete sie drastisch: „Eine Radinfrastruktur in Stuttgart existiert nicht“. Im letzten Jahr wurde mit dem Sammeln von Unterschriften begonnen. Ist das Bürgerbegehren mit mindestens 20.000 Unterzeichner/innen erfolgreich, erhöhe das den Druck auf den Gemeinderat, die geforderten Punkte entweder selbst anzugehen oder aber einen Bürgerentscheid zu veranlassen. Öffentlichkeitswirksame Aktionen wie das Ausrollen von roten Teppichen für Radfahrende fördern die Sichtbarkeit des Themas und mobilisieren neue Unterstützer/innen.

Learning-by-doing, das beschreibt die Erfahrungen von Petra Schulz, Mitglied der AG Radverkehr des VCD und Aktive in der Bündnis-Initiative „Esslingen aufs Rad“. In ihrem Engagement für mehr Fahrradmobilität hätten sie zu Anfangs „sehr viel falsch gemacht in der Kommunikation.“ Das Problem: Auf politischer Ebene wurde Radfahren vor allem als Sport oder Schönwetter-Beschäftigung einer Randgruppe angesehen. Im Rahmen einer neuen Kommunikationsstrategie erarbeiteten die Aktivist/innen ganzheitliche Konzepte, die das Fahrradfahren als zukunftsfähige Mobilitätsform für alle positionierte und verband das mit konkreten Forderungen und Positionspapieren an den Gemeinderat, die dann auf eigenen Websites und in der lokalen Presse, besonders in der Form von Leserbriefen kommuniziert und verteidigt wurden. Fahrradpolitische Veranstaltungen, auch in Zusammenarbeit mit der Stadt, trugen weiter dazu bei, die Wahrnehmung des Themas zu erhöhen. Die Konfrontation zu meiden kam Petra Schulz nie in den Sinn, man müsse immer auf Diskussionen eingehen. Eine Daueraufgabe, die sie bildhaft als „Kneten am Meinungskonsens“ beschrieb. Die Öffentlichkeit müsse mit klaren und einfachen Botschaften „beackert“ werden, um eine „kritische Masse zu schaffen“, die für die Belange einer Radkultur eintrete.

Im Anschluss an die Inputs wurde rege diskutiert. Alle Teilnehmer/innen verfügten über Expertise im Radengagement und betonten den Mehrwert von Vernetzung untereinander. Einig war man sich auch darüber, dass mit den Gemeinderäten auf Sachebene konstruktiv zusammengearbeitet werden sollte, auch wenn dies oft eines „langen Atems“ bedürfe. Es gelte, den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu finden und darauf aufzubauen. Führe das nicht zum Erfolg, müsse man den Mut finden, Protest zu mobilisieren, nach dem Motto „die Kooperation anbieten, aber die Konfrontation nicht scheuen“. Der Workshop schloss mit der Botschaft: Mit Stillstand und Passivität kann es keine Verkehrswende geben, „bewegt euch, nur dann bewegt ihr was!“

Umgestaltung des Straßenraumes

Anna Christmann, Sprecherin für bürgerschaftlichen Engagement und Innovationspolitik der grünen Bundestagsfraktion, stellte sich mit ihren Gästen die Frage, wie durch Umnutzung des Straßenraums höhere Lebensqualität in Städten gewonnen werden kann.

Ein Musterbeispiel dafür stellte Martin Kaufmann, amtierender Oberbürgermeister der Stadt Leonberg, vor. In seiner Zeit als Bürgermeister in der Gemeinde Rudersberg, verantwortete er die Umgestaltung der zentralen Ortsdurchfahrt. Der Ortskern von Rudersberg war lange Zeit mit rund 13.000 Fahrzeugen täglich belastet. Mehrere Bürgerbeteiligungsverfahren begleiteten die fünfjährige Planungsphase. 2015 wurde die Umgestaltung fertig gestellt.  Das Ergebnis ist ein Ortskern, der einem „shared space" gleicht. Fuß- Rad- und Autoverkehr sind gleichberechtigt, eine offene Flächengestaltung ohne Bürgersteige und Schilderwust fordert bewusst eine rücksichtsvolle Mobilitätskultur, in der die Verkehrsteilnehmer/innen viel miteinander kommunizieren müssen. Durch Ideen und Mitwirkung der Bürger/innen wurde aus dem tristen Ortskern eine einladende, grüne Begegnungsfläche mit „Wohlfühlatmosphäre“. Das Verkehrsaufkommen ging um 32% zurück, Tempo 30 und ein Minikreisel sorgten für weitere Verkehrsberuhigung. Die Ortsmitte wurde neu belebt, Barrierefreiheit und eine offene Sicht steigerten auch die Attraktivität der ansässigen Ladengeschäfte. Das Projekt kostete insgesamt 3,5 Mio. €, 570.000 Euro Zuschüsse inklusive. Kolleg/innen in der Politik empfahl Kaufmann, sich selbst in die Rolle der Bürger/innen zu versetzen: „Man weiß erst was es bedeutet Rad zu fahren, wenn man selbst Rad fährt!“.

Neue Wege beschreiten und Hegemonien im öffentlichen Raum hinterfragen, ist die Mission von Architektin Hanka Griebenow. Seit sechs Jahren organisiert sie den „Park(ing) Day“ in Stuttgart, einen Tag, an dem Parkflächen nicht für Autos, sondern von Menschen und für Menschen zu kleinen grünen Begegnungsflächen umgestaltet werden (Der PARK(ing) DAY findet weltweit jedes Jahr am dritten Freitag im September statt und erfreut sich auch in Deutschland zunehmender Beliebtheit). Zu viel Fläche in der Stadt stehe denen zu, die ein Auto besitzen würden. „Der Status Quo ist nicht demokratisch“, so Hanka Griebenow. Gemeinsam mit Mitstreiter/innen entwickelte sie deshalb im Rahmen eines vom Land unterstützen „Reallabors für nachhaltige Mobilität“ in Zusammenarbeit mit der Universität Stuttgart „Parklets“ in der Größe von einem bis mehreren Parkplätzen in Stuttgart. Diese Parklets sollten als „kleine Parks“, „Erweiterung des Bordsteins“, als „Wohnzimmer“ und „Aufenthaltsort für Passanten, die nicht konsumieren möchten“ gesehen werden. Das Parklet am Schützenplatz ist das einzige der elf 2017 erbauten Stadtwohnzimmer, das sich noch erhalten hat. Ein Antrag, über den der Stuttgarter Gemeinderat demnächst abstimmen wird, entscheidet darüber ob das Projekt auch in Zukunft weitergeführt wird.

Nach den Vorträgen entspann sich eine lebhafte Diskussion. „Wem gehört die Stadt? Den Autos oder den Menschen?“, wurde provokant in die Mitte geworfen. Mehr Lebensqualität, das wurde deutlich, gebe es nur, wenn die Straßenfläche zu Gunsten aller Bürger/innen neu gestaltet werden. Dazu bräuchte es „Experimentierräume“, um „neue Formen der Gesellschafts- und Stadtgestaltung“ auszutesten. „Mut zu Leuchtturmprojekten“ wurde ebenso gefordert wie mehr öffentliche Räume nach dem Konzept der „shared spaces“. Die Teilnehmer/innen votierten auch dafür, die kleinen bereits vorhandenen Flächen für nachhaltige Mobilitätsformen im Straßenverkehr sowie Fußgängerbereiche und Radwege zu verteidigen. „Autofreies Wohnen“ und „keine Privatfahrzeuge“ waren Schlagworte für die Vision einer lebenswerten Stadt der Zukunft, ganz nach dem Motto: „Kutschen, Autos – was kommt jetzt?“.

Emissionsfrei liefern - CO2-freier Wirtschaftsverkehr

Björn Peterhoff, Sprecher für Verkehr der Fraktion Bündnis90/Die Grünen im Gemeinderat Stuttgart konnte gleich zu Beginn des Workshops dem leidigen Thema Feinstaubbelastung etwas Gutes abgewinnen. Schon allein aus gesundheitlichen Gründen sei es in Stuttgart klar, dass sich etwas verändern müsse, der Luftreinhaltungsplan der Stadt, so Peterhoff, „befeuert das Thema Verkehrswende“. Ein großes Problem seien nach wie vor die Emissionen aus dem Liefer- und Speditionsverkehr.

Anne Pelzer hat eine andere Vision für Stuttgart. Die Unternehmerin ist Teil der IHK Vollversammlung Stuttgart und Mitglied des Verkehrsausschusses der Region Stuttgart. Seit 2015 vertreibt sie mit ihrem Unternehmen Hyggelig Bikes GmbH Elektro-Lastenräder für Gewerbe und Privatpersonen und bietet seit diesem Jahr auch Beratung und Trainings für Unternehmen an, die nachhaltige Mobilität in ihre Unternehmenskultur integrieren wollen. Für Anne Pelzer stehen Lastenräder für eine neue, „entspannte Mobilitätskultur“, für eine Stadtentwicklung „weg von einer autogerechten und hin zu einer menschengerechten Stadt“. Lastenfahrräder seien „game changer“ für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung. Vor allem für den lokalen Handel in Stuttgart böten sie enormes Potential im Konkurrenzkampf mit Onlinehändlern: Bestellungen könnten noch am selben Tag bei den Kund/innen ankommen, die Lieferungen seien zudem kostengünstiger und zuverlässiger als herkömmliche Lieferdienste und die individuell gestaltbaren Lastenräder als „rollende Litfaßsäulen“ ein „effizienter Teil des Marketings“ von Unternehmen. Und ihre Vorstellung von einem Einkaufserlebnis der Zukunft? „In Zukunft bewegt man sich dort, wo es schön ist. Und vielleicht gerade deshalb, weil es dort keine Parkplätze gibt.“

Raimund Rassillier bietet mit seiner veloCARRIER GmbH schon heute eine Alternative für alle, die das Einkaufen zwischen Liefertransportern und 18-Tonner-LKWs nicht genießen können. Der Tübinger ist auf nachhaltige Citylogistik mit E-Cargobikes spezialisiert, wovon mittlerweile 50 Stück in zehn deutschen Städten unterwegs sind, um unterschiedlichste Waren auszuliefern oder für den Versand aufzunehmen. Mittlerweile gehören große Unternehmen wie Dachser, Siemens, Zalando und Breuninger zu den Auftraggebern. Damit das funktioniert brauchte Rassillier anfangs vor allem eins: Innovationsgeist - denn die Cargobikes, die den Anforderungen der modernen Logistik gewachsen sein sollten, mussten von dem Gründer selbst mitentwickelt werden. Umweltfreundlichkeit sei eine Sache, ausschlaggebend für die Auftraggeber sei aber vor allem die wirtschaftliche Rentabilität. „LKWs“, so Rassillier, „schaffen nur etwa drei Lieferstopps pro Stunde, E-Cargobikes dagegen zehn bis zwölf“. Möglich macht dies ein ausgeklügeltes Logistiksystem. Möglichst innenstadtnah wird ein Zentral-Hub, ein Hauptumschlagplatz errichtet, an dem Waren aller Auftraggeber angenommen und disponiert werden. Ausgerechnet in Stuttgart aber bremse ein Flächenproblem und mangelnde Unterstützung seitens der Stadt den Fortschritt. Eine ideale Fläche für den Zentral-Hub des Start-ups hätte die Stadt kurzfristig einfach anderweitig vergeben.

Hier waren sich die Workshopteilnehmer/innen einig: Stuttgart muss klare Kante zeigen und bevorzugt Flächen für umweltfreundliche Citylogistik bereit stellen. Eine Diskussion entspann sich auch um die Frage, was man der Angst des lokalen Handels vor Umsatzverlusten durch Parkplatzrückbau entgegensetzen könne. Die Lösung: Argumentationshilfe durch Fakten statt Vorurteile! Anne Pelzer hatte zum Ende noch einen praktischen Tipp, um das Thema gewerblich genutztes Lastenrad niedrigschwellig zu fördern. Das Bundesprojekt „Ich entlaste Städte“ ermöglicht es Firmen und Einrichtungen probeweise Lastenräder auszuleihen. Denn auch auf dem Weg zum emissionsfreien Lieferverkehr gilt: Hemmschwellen abbauen, neue Erfahrungen machen, Innovationen wagen.

Meine Stadtbahn, mein Teilauto – Verkehrswende selber machen

Die Verkehrswende ist nicht nur ein urbanes Thema. Einen Blick auf innovative Projekte aus der Zivilgesellschaft im ländlichen Raum warf deshalb der Workshop mit Christoph Erdmenger, Leiter der Abteilung Nachhaltige Mobilität im Ministerium für Verkehr und Infrastruktur Baden-Württemberg.

Den Aufschlag machte Jan Tzschaschel, Vorstandsmitglied von TeilAuto e.V. Der Verein aus Schwäbisch Hall wurde 1996 aus einer Umweltgruppe der Volkshochschule heraus gegründet. Momentan sind acht Autos des Vereins im Einsatz, darunter drei Erdgasautos und ein rollstuhlgerechtes Fahrzeug. Die Finanzierung wird durch Mitgliedsbeiträge, Fahrteinnahmen und Unterstützung durch den Verkehrsverbund Schwäbisch Hall gesichert.

Carsharing auf dem Land, sei, so Tzschaschel, im Gegensatz zur Stadt noch nicht profitabel. Während im urbanen Umfeld knapp 14 % der Einwohner/innen Carsharing-Angebote nutzen würden, wären es in Schwäbisch Hall gerade mal 1 % der Bevölkerung. Ist die Hürde, diese neue Mobilitätsform zu testen, aber erst einmal überwunden, bestünde für aktive Nutzer/innen kein Unterschied zu urbanen Carsharing Anbietern wie stadtmobil.“ Als Erfolgsvoraussetzungen für gemeinsame Autonutzung im ländlichen Raum nannte er eine moderne Carsharing-Technik, kompetente Ansprechpersonen für Interessierte, engagierte „Initialnutzer“ und - „ausreichend Durchhaltevermögen“.

Im Durchhalten übt sich auch Martin Hilger von Pro RegioStadtbahn e.V. in Mössingen. Der Förderverein engagiert sich für ein regionales Stadtbahnsystem in Tübingen, Reutlingen und der Region Neckar-Alb. Die Situation vor Ort: Die Straßen in die Städte sind mit Berufspendler/innen aus dem Umland überlastet, durch den hohen Anteil an Individualverkehr bleiben auch Busse täglich im Stau stecken. Zwar gebe es Bahnlinien vom Umland in die Städte, eine höhere Nutzung scheitere aber am „Umsteigewiderstand“. Spätestens an den zentralen Bahnhöfen müsste wieder in Busse oder Straßenbahnen umgestiegen werden, um die Zielorte in den Städten zu erreichen. Die Idee der RegioStadtbahn- Unterstützer/innen ist es, vorhandene Bahnlinien im Einzugsbereich auszubauen, und mit dem Angebot umsteigefreier Verbindungen bis in die Innenstädte mehr Menschen zur Nutzung des Bahnverkehrs zu bewegen. Gute Beispiele aus der Region dienen auch hier als Vorbild, wie etwa das Karlsruher Modell. Durch die Einführung von neuen Stadtbahnen konnte die Nutzerzahl auf einzelnen Strecken vom Umland nach Karlsruhe verachtfacht werden. Ein nächster Schritt auf dem Weg zur RegioStadtbahn ist ein Bürgerentscheid in Tübingen.

Die Workshopteilnehmer/innen zeigten großes Interesse an den Vereinsprojekten. Die Zusammensetzung des Vorstands, spiele eine entscheidende Rolle bei Pro RegioBahn, betonte Hilger. Dort säßen neben Gemeinderäten auch technische Ansprechpartner und ein Grafiker für eine professionelle Kommunikation mit den Bürger/innen. Jeder könne so seine Expertise einfließen lassen. Die Frage, wie Kommunen Car Sharing-Initiativen auf dem Land unterstützen könnten, konnte Jan Tzschaschel schnell beantworten: Ausreichend Stellplätze zur Verfügung stellen, die Angebote für Dienstfahrten selber nutzen und Anschubfinanzierung gewährleisten.

Gute Ideen : Und wie wird daraus Politik?

Zu Beginn der Schlussdiskussion lenkte Oberbürgermeister Fritz Kuhn den Blick auf darauf, was sich in Stuttgart in Sachen Verkehrswende bewegt. Die planerische und strategische Grundlage für die Mobilitätsagenda der Hauptstadt ist der Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“, der 2017 zum ersten Mal fortgeschrieben wurde. „Mehr Lebensqualität für alle“, das sei das Hauptziel des Aktionsplans, der den konventionellen Autoverkehr um 20% verringern, und den ÖPNV, Fahrrad- und Fußverkehr dafür ausbauen will. Erste Erfolge beim Schwerpunkt Ausbau des ÖPNV zeigten sich an unerwarteter Stelle. Von einem „hegemonialem Durchbruch“ sprach Kuhn nicht ohne Stolz und meinte damit den Ausbau einer Bahnlinie „bis an das Werkstor von Daimler“. „Auch wer beim Autobauer schafft, kommt am besten mit dem ÖPNV zur Arbeit“, sei hier die Botschaft. Man merkt: Es gleicht einem Balanceakt, die Autobauer als größte Arbeitgeber der Region mitzunehmen auf dem Weg hin zu einer neuen nachhaltigen Mobilitätskultur. Denn, so Kuhn, „die Anschlussfähigkeit meiner Argumente an die Automobilindustrie muss gegeben sein“. Herausforderungen gibt es aber auch an andere Stelle. Knappe Abstimmungsverhältnisse im Gemeinderat erschwerten es, Verkehrswendemaßnahmen durchzusetzen. Es gäbe einen „Kampf um jeden Parkplatz“.  „Ein paar Stimmen mehr würden uns guttun“, ließ der OB mit Blick auf die anstehenden Kommunalwahlen verlauten.  Dennoch werden in Stuttgart schon jetzt große Themen angegangen. Neben dem systematischen Ausbau und der Modernisierung des ÖPNV kommt im Frühjahr 2019 eine erste große Teilreform. „Billiger und einfacher“ solle der öffentliche Nahverkehr werden und auch in die Förderung des Radverkehrs investiert die Stadt.

Nach dem Input von Fritz Kuhn bewegte sich die Diskussion um eine zentrale Frage. Wie kann es gelingen, bürgerliches Engagement in politische Prozesse einzuarbeiten? Die Planung der Nahverkehrsentwicklung, war Kuhn überzeugt, sei nur mit Beteiligungsverfahren in den Stadtbezirken umzusetzen, Austausch und Zusammenarbeit mit Bürger/innen und Unternehmen eine „Daueraufgabe“. Als zentrale Anlaufstelle empfahl er die Stabsstelle für nachhaltige Mobilität der Stadt Stuttgart.
Anne Pelzer plädierte für einen Perspektivwechsel. Um einen echten Wandel herbeizuführen, müssten den Bürger/innen mehr Möglichkeiten geboten werden, neue Mobilitätsformen auszuprobieren und zu testen.

„Verkehrspolitik ist Angebotspolitik“, sagte Michael Obert, Karlsruher Baubürgermeister a.D.: Er hatte den Ausbau der Fahrradinfrastruktur in Karlsruhe entscheidend vorangetrieben und meinte das durchaus als Kritik an Stuttgart, das seiner Meinung nach zu viel Raum die den Autoverkehr und zu wenig für die Radfahrer/innen bereithält. Wo Angebote da wären, sprach er aus Erfahrung in Karlsruhe, würden sie auch genutzt. Insgesamt gebe es in Karlsruhe einen Aufwuchs des Fahrradverkehrs zulasten des Autoverkehrs, aber, betonte Obert, „nicht durch Bestrafung der einen Seite, sondern durch positive Angebote“. Entscheidend sei es, kritische Bürger/innen zu überzeugen, ebenso die lokale Presse: „Man muss den Humus, auf dem das Thema wachsen kann, bereiten.“

Andreas Schackert, Landesfachbereichsleiter Verkehr bei ver.di Baden-Württemberg, mahnte an, bei aller Unterstützung für die Verkehrswende die Situation der Arbeitnehmer/innen in der Automobil- und Zulieferindustrie und dem öffentlichen Nahverkehr nicht zu vergessen. Die „Versäumnisse der letzten Jahrzehnte“ könnten nicht auf die Schnelle geändert werden. Ein Ausbau der Infrastruktur sei dringend notwenig, eine Verkehrswende sonst „nicht stemmbar“, die Angestellten der ÖPNV-Betriebe wären jetzt schon „komplett überlastet“.

Diese „Katastrophenrhetorik“ wurde aus dem Publikum kritisiert, eine Überlastung gäbe es nur zu Stoßzeiten. Fritz Kuhn entwarf an dieser Stelle eine Vision, wie die Verkehrswende auch mit einer neuen nachhaltigen Arbeitskultur einhergehen könne. „Neue flexible Arbeitsmodelle“ wären in der Lage, den Pendlerverkehr zu verringern und zu entzerren. Eine Nahverkehrsabgabe wäre in der Lage, einen günstigeren ÖPNV finanzieren. „Wir sind“, fasste Kuhn zusammen, „mitten drin in der Verkehrswende!“.

Jobst Kraus, ehrenamtlicher Nachhaltigkeitsbeauftragter des BUND Landesverbandes Baden Württemberg widersprach dieser Aussage vehement. "Wir sind am Anfang der Verkehrswende und müssen jetzt loslegen“, begann er seinen Input zur Entwicklung im Ländle. Ihn störte vor allem, dass „zu wenig über Zielkonflikte gesprochen wird“ sondern „zu sehr darüber, was schon erreicht wurde“. Tragfähige Zukunftsvisionen entwerfen und davon Handlungsoptionen für die Gegenwart ableiten - das versucht die Studie „Zukunftsfähige Mobilität in Baden-Württemberg“, die vom BUND Baden-Württemberg initiiert und nach einem langen Beteiligungsprozess im letzten Jahr veröffentlicht wurde. Die Studie skizziert drei Szenarien einer nachhaltigen Mobilität im Jahr 2030 und 2050, „Neue Individualmobilität“, „Neue Dienstleistungen“ und „Neue Mobilitätskultur“. „50% aller täglichen Wege der Bürger/innen in Baden-Württemberg sind kürzer als fünf Kilometer“, so Kraus. Darin liege viel Potential für eine neue Kultur des Fuß- und Fahrradverkehrs. Kritisch hingegen sei es, die Hoffnung allein auf technologischen Fortschritt zu setzen. „Elektromobilität ist nicht das Allheilmittel“, „downsizing“ und „Suffizienz“ hingegen zentrale Themen. Eine „gelungene Verkehrswende“ , bekräftigte Kraus, brauche eine „gesamtgesellschaftliche Transformation“. Auf dem Weg dahin müsse sich nicht nur die Verkehrsinfrastruktur, sondern vor allem auch unsere „mentale Infrastruktur“ ändern.

Ist Verkehrswende im ländlichen Raum anders als in Großstädten? Für Andreas Schackert gibt es zumindest unterschiedliche Voraussetzungen. Während es in Städten meist kommunale Nahverkehrsbetriebe gebe, litten die Beschäftigten bei privaten Anbietern im ländlichen Raum unter den Auswirkungen eines starken Wettbewerbs. Nachdenkliche Stimmen kamen an dieser Stelle aus dem Plenum. Der „Nulltarif“ als erstrebenswertes Ziel für den ÖPNV sei nicht sinnvoll, denn auch der öffentliche Nahverkehr sei „per se nicht ökologisch“. Ein hochqualitativer, nachhaltiger ÖPNV sollte den Bürger/innen dann doch auch "etwas wert" sein.
Jobst Kraus plädierte mit Blick auf kurze Wege in Stadt und Land dafür, Wohnen und Arbeiten wieder zusammenzubringen. Die „Selbstverständlichkeit von 125 Jahren Automobilindustrie“ müsse hinterfragt werden. Es brauche, stimmte Andreas Schakert zu, „mehr Wohnraum in der Stadt und mehr Gewerbe auf dem Land“. Michael Obert legte nach, „falsche Verkehrspolitik beginnt mit falscher Siedlungspolitik“, nachhaltige Mobilität müsse in der Stadt- und Siedlungsplanung von Anfang an mitgedacht werden.

Die Schlussdiskussion machte klar: Die Verkehrswende wirft die Frage nach Hegemonie auf – wer bestimmt, wie die Stadt in Zukunft aussehen soll? Althergebrachtes muss auf den Prüfstand und, wie Jobst Kraus es formulierte, „es wird nicht schmerzfrei gehen“. Den Mehrwert von nachhaltiger Mobilität zu vermitteln und die Bürger/innen auf dem Weg hin zu einer gesamtgesellschaftlichen Transformation mitzunehmen wird die Herausforderung sein. Anne Pelzer setzte zum Ende der Diskussion einen Impuls, der nachhallte: „Es gibt neue Möglichkeiten, die sich auftun, und die müssen wir jetzt nutzen.“

Wie alle Bürger/innen die Karten für eine nachhaltige Verkehrswende und eine grüne Zukunft im Süden schon jetzt neu mischen können, darauf verwies Sabine Drewes in ihrem Schlusswort: Die Stimme abgeben bei den Kommunalwahlen am 26. Mai 2019.