Kein Ort

Dieser Text bildet das Herzstück der Reihe „Orte, Dinge, Menschen“. Die in dieser Literatur-Reihe entstandenen Gedichte, Prosatexte und poetischen Essays erscheinen zum sechzigsten Stichtag des Anwerbeabkommens in meinem Buch „Alphabet der Sehnsucht. Texte zum Vergessen“ im Herbst 2021 im Verlag edition schreibStimme.

Schatten eines Stuhles auf dem Boden

 

Schatten von Bäumen auf dem Asphalt

Der Titel dieser poetischen Näherung ist an den fehlenden Ort der Trauer sowie auch an die nahezu gänzlich abwesende Eingliederung dieses Stückes deutscher Geschichte in die bundesrepublikanische Historiographie angelehnt — und damit auch an die bis in den Tod verweigerte Anerkennung für die Leistung der Gastarbeiter:innen.

Das Krankenhaus

Hier arbeiteten viele Gastarbeiter:innen als Putzkräfte. Oft wurden sie zu komplizierten und sensiblen medizinischen Übersetzungen herangezogen, obwohl sie selbst wenig Deutsch sprachen. Meist blieben sie unsichtbar.

Große schwarz-gelbe Ringskulptur auf einer grünen Wiese
Ringskulptur vor der Uni-Klinik in Freiburg

Pflastersteine, Straßenbahnlinien und Baustellen

Bild entfernt.

Rot-Weiße Absperrung einer Baustelle

An all diesen Orten haben Gastarbeiter gearbeitet. Ich habe für den öffentlichen Raum bewusst keine Fabrik oder ein Firmengebäude gewählt. Diese Plätze durchschneiden und durchkreuzen unseren Alltag. An Baustellen habe ich als Kind die „Ausländer“ gesehen.
Mein Vater, wie auch viele andere Gastarbeiter, pflegte häufig bei einem Spaziergang durch die Stadt auf bestimmte Gebäude oder Straßen zu zeigen und zu sagen: „Das habe ich gebaut, das haben wir gemacht.“

Der Stuhl

Schatten eines Stuhles auf dem Boden

Der leere Stuhl und sein Schatten symbolisieren die Abwesenheit der Gastarbeiter:innen in der kollektiven Erinnerung. Sein Schatten steht dabei für das Erbe dieser verweigerten Anerkennung, die die Nachfahr:innen einfordern. Der Schatten steht auch für das schlechte Gewissen der Nachfahr:innen, die sich in der Schuld dieser ersten Generation sehen. Und dies besonders, da sie einen Schichtaufstieg vollzogen haben und ein gänzlich anderes Leben als das der Eltern- und Großelterngeneration leben.
Der leere Stuhl symbolisiert zudem die Abwesenheit eines Lebensabends. Viele dieser Gastarbeiter:innen sterben kurz nach ihrer Verrentung.

Und schließlich ist der leere Stuhl Sinnbild für den fehlenden Platz in offiziellen erinnerungskulturellen Praktiken der Bundesrepublik.

Fotocollagen und der Türkische Personalausweis (mit Arbeiterstempel) meines Vaters

Eine Fotocollage mit Bildern eines Mannes, türkischen Symbolen

Die Fotos sind Kindheitsbilder von mir sowie Bilder aus dem anatolischen Dorf meiner Eltern. Dabei setze ich typische Farben, Motive und Muster der Region ein. Dazu gehören auch die Stickereien, Teppichkissen, Kelims und Spitzenborten. Diese fungieren als erinnerungskulturelle Texturen, die die Geschichten der Menschen an die nächsten Generationen über Migrationsphänomene hinweg transportieren.

Fotocollage

Den Stempel der Arbeiter-Vermittlungsbehörde erhielt mein Vater vor seiner Reise nach Deutschland. In diesem Ausweis finden sich auch Angaben zu seinem Wehrdienst in der Türkei: Infanterist bei der Luftwaffe.


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