Lateinamerika zwischen klimabedingten Schäden und Klimagerechtigkeit

Analyse

Lateinamerika zählt zu den Regionen, die am meisten vom Klimawandel betroffen sind, obwohl sie nur in geringem Maße dafür verantwortlich ist. Die lateinamerikanische Zivilgesellschaft fordert, dass die Hauptverschmutzer bei der COP27 endlich die zugesagten Mittel für Schutz- und Anpassungsmaßnahmen zahlen und vor allem auch für die klimabedingten Verluste und Schäden aufkommen.

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Nach heftigen Regenfällen in Brasilien stehen in einem Wohnviertel Straßen unter Wasser.

Nur wenige Wochen vor der 27. UN-Klimakonferenz in Ägypten (COP27) führte Hurrikan Julia in Lateinamerika zu verheerenden Überschwemmungen und Erdrutschen. Betroffen waren Kolumbien, Venezuela, Nicaragua, Honduras, El Salvador und der Süden Mexikos. Mehrere Dutzend Menschen kamen dabei zu Tode, Straßen wurden durch umgekippte Bäume blockiert, unzählige Häuser zerstört, die Infrastruktur wurde lahmgelegt.

Es ist die neue Normalität. Wie die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) in ihrem 2022 erschienenen Klimabericht für Lateinamerika und die Karibik schreibt, hat der Klimawandel schwerwiegende Auswirkungen auf die Ökosysteme sowie die Ernährungs- und Wassersicherheit des gesamten Kontinents. Zu den extremen Wetterbedingungen zählten heftige Dürren und Niederschläge, Hitzewellen sowie schmelzende Gletscher. Bereits 2020 verwies die WMO auf die schlimmste Dürrephase innerhalb von 50 Jahren im Süden Amazoniens und einen Rekord an Hurrikans sowie Überschwemmungen in Mittelamerika.

Lateinamerika und die Karibik ist eine der am meisten vom Klimawandel betroffenen Regionen der Welt. Die Folge sind schwere Schäden für die Gesundheit, das Leben, die Ernährung, das Wasser, die Energie und die sozial-ökonomische Entwicklung in der Region. Der WMO zufolge kosteten die mit dem Klima verbundenen Ereignisse in Lateinamerika und der Karibik zwischen 1998 und 2020 mehr als 312.000 Menschenleben. Über 277 Millionen Personen waren von den Auswirkungen betroffen.

In Lateinamerika werden sich die Auswirkungen des Klimawandels auch künftig verstärken. Dazu zählen Hitzewellen, die Abnahme landwirtschaftlicher Erträge, Waldbrände, das Absterben der Korallenriffe und extreme Ereignisse, die Auswirkungen auf den Meeresspiegel haben. In einer der wirtschaftlich und sozial ungleichsten Regionen weltweit wirkt die Klimakrise zusätzlich zu der Coronapandemie und anderen globalen Krisen wie ein Multiplikator bestehender Ungerechtigkeiten. Dies beflügelt die Tendenz, Konflikte zu verstärken, die klimaverursachte Flucht und Migration zu beschleunigen und die grundlegenden Menschenrechte zu untergraben.

Lateinamerika ist somit unverhältnismäßig stark von den klimabedingten Schäden und Verlusten betroffen und bereits heute in hohem Maße verwundbar, obwohl die Region selbst nur für acht Prozent des weltweiten Treibhausgas-Ausstoßes verantwortlich ist. Auf Mittelamerika selbst entfallen lediglich 0,8 Prozent der gesamten Nettoemissionen, wie die Nichtregierungsorganisation (NGO) La Ruta del Clima aus Costa Rica aufzeigt. Als Teil des lateinamerikanischen Zweigs des globalen Netzwerks Climate Action Network CAN, dem weltweit mehr als 1.500 zivilgesellschaftliche Organisationen angehören, fordert die NGO einen radikalen Kurswechsel bei der CO2-intensiven Wirtschaftsweise des globalen Nordens. Denn dieser hat mit Abstand am meisten zur Klimakrise beigetragen.

Außerdem verlangt La Ruta del Clima von den Ländern des globalen Nordens, ihrer Verpflichtung nachzukommen, die ab 2020 zugesagten jährlichen 100 Milliarden US-Dollar für Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen zu zahlen. Auch sollen sie für die klimabedingten Schäden und Verluste aufkommen, für die es bisher noch keinerlei Finanzierungszusagen gibt. Im Gegenteil: Im Hinblick auf die Finanzierung von Schadensbeseitigungsmaßnahmen wurden die Bemühungen der G77 und Chinas im letzten Jahr blockiert und auch bei den diesjährigen Klimaverhandlungen der Vereinten Nationen in Bonn durch die USA, die Europäische Union und die Schweiz verhindert. Hoffnung, neue Impulse und Rückenwind bei den internationalen Klimaverhandlungen zu bekommen, um die Industrieländer in die Pflicht zu nehmen, verbinden viele zivilgesellschaftliche Organisationen Lateinamerikas mit dem Regierungswechsel in Kolumbien. Der neue, linksgerichtete Präsident Gustavo Petro propagiert die Abkehr von fossilen Energien sowie eine gerechte Energiewende in seinem Land und will eine Führungsrolle im internationalen Kampf gegen den Klimawandel einnehmen.

Schäden und Verluste – endlich konkrete Instrumente auf den Weg bringen

Tatsächlich bleiben die Industrieländer als Hauptverursacher des Klimawandels weiterhin hinter ihren Versprechen zurück: Weder haben sie die benötigten Gelder für die Finanzierung der Schutz- und Anpassungsmaßnahmen bereitgestellt, noch deren Dringlichkeit anerkannt. Die Finanzierung ist aber eine zentrale Bedingung dafür, den Klimaschutz umzusetzen, womit sogar 80 Prozent der Schäden verhindert werden könnten, so Sabine Minninger, Referentin für Internationale Klimapolitik bei Brot für die Welt. Für La Ruta del Clima stehen die nächsten Monate ganz im Zeichen der Verhandlungen über Schäden und Verluste. Die NGO und das Netzwerk CAN streben an, dieses Thema weiterhin auf der Agenda der Weltklimakonferenz in Ägypten zu halten und dort zu adressieren. Laut António Guterres sei es höchste Zeit, über endlose Diskussionen hinauszugehen. Die gefährdeten Länder bräuchten sinnvolle Maßnahmen, betonte der UN-Generalsekretär kürzlich in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung: „Verluste und Schäden treten jetzt auf, schaden Menschen und Volkswirtschaften jetzt und müssen jetzt angegangen werden - beginnend auf der COP27. Dies ist eine grundlegende Frage der Klimagerechtigkeit, der internationalen Solidarität und des Vertrauens.“

In Ägypten soll nun das unter der deutschen G7-Präsidentschaft erarbeitete Konzept für einen Klimarisikoschutzschirm („Global Climate Risk Shield“) vorgestellt werden. Dabei spielen Klimarisikoversicherungen eine zentrale Rolle, um die Menschen besser gegen klimabedingte Katastrophen wie Wirbelstürme, Dürren oder Überschwemmungen abzusichern. Tasneem Essop, geschäftsführende Direktorin des Climate Action Network, äußerte sich dazu bei einer öffentlichen Anhörung des Deutschen Bundestages am 12. Oktober skeptisch. Versicherungen könnten Härten bei Katastrophen abfedern, würden aber nicht weit genug greifen und müssten in ein umfassendes Klimarisikenmanagement eingebunden werden. Stattdessen sei es notwendig, einen geeigneten Finanzierungsmechanismus auf multilateraler Ebene unter dem Dach der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) zu schaffen. Und Deutschland solle sich auf der COP27 dafür einsetzen, dass die Finanzfazilität für Schäden und Verluste – also die Zusage von Geldern – ins Leben gerufen wird. Die Zivilgesellschaft Mittelamerikas und des globalen Südens arbeitet seit Monaten an der Klima-Roadmap, um die Schäden und Verluste auf der COP zu präsentieren. Die Erwartungen sind hoch, dass die Industriestaaten dieses Mal die Dringlichkeit anerkennen und klären, welches Finanzvolumen benötigt wird, um tatsächlich Klimagerechtigkeit herzustellen.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de