Das Studio Ismail Kadaré

I had entered the kingdom of words, where a merciless tyranny reigned. Ismail Kadaré

Bild der ruga-e-dibres-25

Der eine baut ein Haus in Tirana und kommt ins Gefängnis, der andere zieht in dieses Haus ein und wird weltberühmt. Der eine bleibt in Albanien, als er nach acht Jahren begnadigt wird, der andere verlässt sein Heimatland nach dem Sturz des Enver Hoxha Regimes, sobald die Grenzen offen sind. Der eine ist der albanische Künstler und Architekt Maks Velo, der andere Ismail Kadaré, der bekannteste albanische Schriftsteller.

Beide sind miteinander befreundet.

1935 wird Maks Velo in Paris geboren. Der Vater hat in Athen Medizin studiert und arbeitet in der französischen Hauptstadt als Arzt. Die Mutter ist eine Immigrantin aus der Nähe von Korça mit einem US-amerikanischen Pass. Nach der Geburt von Maks gehen die Eltern nach Albanien. Schon im Gymnasium bekommt der Schüler auf Grund seiner Begabung Unterricht bei dem bekannten albanischen Maler Vangjush Mio. In den 1950er Jahren zieht die Familie in die Hauptstadt. 1957 schließt Velo sein Architekturstudium an der Universität Tirana ab und arbeitet anschließend für das Projektbüro des Exekutivbüros der Partei der Arbeit. Zwischen 1960 und 1973 entwirft er Schulen, Parks, Kinos, Hotels und Häuser, unter anderem das Haus in der Rruga e Dibrës 25, nahe der Oper, in dem dann Kadaré wohnte. Als Künstler stellt er in Moskau und Bukarest aus. Er wird Mitglied des Albanischen Bundes der Schriftsteller und Künstler und unterrichtet bis 1973 an der Hochschule für Künste in Tirana.

Das Haus in der Rruga e Dibrës 25, entworfen von Maks Velo

 

Zu diesem Zeitpunkt ist Maks Velo 38 Jahre alt und wähnt sich weiter auf dem Weg nach oben.

Im Hintergrund allerdings rumort es. Nachdem Enver Hoxha 1948 mit dem Nachbarstaat Jugoslawien gebrochen und sich der stalinistischen Sowjetunion zugewandt hat, kommt es 1961 zum Bruch mit Nikita Chruschtschow und zu einer Anlehnung an die Volksrepublik China. Aber auch Mao Zedong beschreitet nach Meinung des Diktators Hoxha nicht den richtigen Weg in den Kommunismus. In der Folge beginnt eine totalen Selbstisolation des Landes. Aus Angst vor ausländischen Invasoren werden im ganzen Land Bunker geplant. 750.000 sollten es werden, für je vier Albaner*innen einen. Die Auswirkungen auf die Beton- und Stahlindustrie waren verheerend. Gebraucht wurden sie nie. Viele davon stehen heute noch in der Landschaft.

Nicht jeder kann die politischen Volten des Onkel Enver, wie die Schulkinder Hoxha nennen müssen, so schnell mitgehen, dass der Geheimdienst Sigurimi zufrieden wäre. Ein Wort, das mit seinen hellen I-Lauten gemütlich klingt, aber im ganzen Land Schrecken verbreitet – eine scharfe Waffe der Partei. „Ausländische Einflüsse“, sichtbar auch in seinen Bauten, werden Maks Velo von anderen Künstler*innen, die den sozialistischen Realismus für das einzig Richtige halten, vorgeworfen. Er fällt in Ungnade. Dies setzt voraus, dass es vor diesem Zustand eine Art von Gnade gegeben habe, allerdings nicht in einem christlichen Sinn, denn Albanien schickt sich an, der erste atheistische Staat in Europa zu werden. Velo muss 1975 die Stadt verlassen und in ein 15 km entferntes Dorf umziehen. Dort lebt er bis zu seiner Verhaftung im Oktober 1978, denn seine Feinde geben keine Ruhe.

Nach sechs Monaten Untersuchungshaft wird er wegen „Agitation und Propaganda“ zu zehn Jahren Kerker und harter Arbeit verurteilt. Im Prozess ist es ihm verboten den Namen eines Künstlerkollegen, eines rührigen Spitzels, zu nennen. Er kommt nach Spaç, einem Gefängnis, das viele aufgrund der Arbeit in einem Kupferbergwerk, der miserablen Verpflegung und den Folterungen durch die sadistischen Aufseher*innen nicht lebend verlassen. Lea Ypi erinnert sich in ihrem Buch „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte, dass es in ihrer Familie üblich war, das Gefängnis als Universität, den Aufenthalt als Studium und die Entlassung als Examen zu bezeichnen. Nach acht Jahren wird Velo begnadigt, er kann also vorzeitig das Examen ablegen, um fortan als Schleifsteinarbeiter der albanischen Gesellschaft zu dienen. Er ist nun 51 Jahre alt, trägt weiterhin den Makel eines Feindes des albanischen Staates und 246 seiner künstlerischen Werke sind offiziell verbrannt worden. Über seine Zeit in Spaç schreibt er drei Romane: „Das Scheren des Kopfes“, „Der Gefängnismantel“ und „Der Gefängnissack“. Und er macht die Namen seiner Verräter*innen öffentlich.

1991 wird er vom Obersten Gericht Albaniens für unschuldig erklärt. Zu diesem Zeitpunkt ist der Diktator Enver Hoxha bereits sechs Jahre tot, ohne seinem Ziel eines kommunistischen Staates näher gekommen zu sein.

Ismail Kadaré wohnt also in dem Haus, das Maks Velo entworfen hat und das ihn in so große Schwierigkeiten gebracht hat. Es ist ein fünfstöckiges Mietshaus in der Nähe des zentralen Skanderbeg Platzes - albanisch Sheshi Skënderbej - in Tirana, hat strenge Linien, die durch farbig abgesetzte Balkone aufgelockert werden, und wäre auch heute noch ein Schmuckstück für jede moderne europäische Hauptstadt. Der Architekt sorgte dafür, dass die Wohnung des Schriftstellers im dritten Stock größer ist als die übrigen, damit genügend Platz zum Schreiben ist. Und er hat dem Freund eine Freude bereitet. In das Arbeitszimmer Kadarés hat er einen Kamin einbauen lassen – eine geradezu verwegen großbürgerliche Sünde in einem Arbeiterstaat. Da es schwierig ist in einer Großstadt an Holz zu kommen, bringen Besucher*innen immer wieder ein paar Scheite in ihrer Aktentasche mit, denn Aktentaschen sind unter Intellektuellen unverdächtig.

Kadaré wuchs in Gjirokastra - albanisch Gjirokastër - im südlichen Albanien auf. Für ihn war dies „eine seltsame Stadt, die anmutete, als sei sie in einer Winternacht wie ein vorzeitliches Wesen plötzlich im Tal aufgetaucht.“ Er empfand alles an seiner Heimatstadt als „alt und steinern.“ Deshalb war er wahrscheinlich froh, als er zum Studieren in die Hauptstadt gehen konnte. Nach seinem Lehrerdiplom widmete er sich der Literaturwissenschaft am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde zunächst vor allem als Lyriker bekannt.

1963 erschien der Roman „Der General der Toten Armee“, der in Albanien von der Literaturkritik ignoriert wurde, den Autor aber sofort im Ausland bekannt machte. Die Geschichte eines italienischen Generals, der in Albanien tote Soldaten ausgraben möchte, wurde mit Michel Piccoli und Marcello Mastroianni verfilmt. Von der ausländischen Bourgeoisie gefeiert zu werden, machte allerdings das Leben in der Heimat nicht leichter. 1971 dann der Roman „Chronik in Stein“, den Karl-Markus Gauß in der Wiener Presse „zu den schönsten Werken der neueren europäischen Literatur“ zählte. Obwohl im fünfzehnten Kapitel ausdrücklich auf den Partisanen Enver Hoxha hingewiesen wird, gibt es in Albanien auch dafür keine guten Kritiken.

Kolleg*innen, vielleicht auch Neider*innen, schließen sich gegen „den Liebling des Westens“ zusammen und genauso wie sein Freund Maks Velo muss Kadaré 1975 die Stadt verlassen und wird zur Zwangsarbeit aufs Land geschickt.

In seinem Tagebuch vom 20. Oktober 1975 schreibt Enver Hoxha:

„Es ist klar, dass Kadaré konterrevolutionär ist, er ist gegen die Diktatur des Proletariats, gegen die Gewalt und Unterdrückung von Klassenfeinden, er ist gegen den Sozialismus im Allgemeinen und in unserem Land im Besonderen.“

Kadarés Akte bei der Sigurimi ist mit 1.280 Seiten und vier Bänden die umfangreichste aller öffentlichen Persönlichkeiten Albaniens. Trotzdem wird ihm von Kritiker*innen nach den ersten freien Wahlen 1991 eine Nähe zum stalinistischen System vorgeworfen.

Zu diesem Zeitpunkt war das Haus, das Maks Velo entworfen hatte, in einem erbärmlichen Zustand und erst im Jahr 2015 wurde es als Kulturdenkmal registriert. Nach weiteren vier Jahren eröffnete dort im Mai 2019 das Studio Kadaré, ein zwar kleines, aber interessantes Museum. Bis auf einen Raum, der heute als Büro dient, wurde die Wohnung so gelassen, wie sie der Schriftsteller eingerichtet hatte. Bei der Schrankwand im Wohnzimmer können die Besucher*innen Schubladen aufziehen und Türen öffnen, um Informationen zu den einzelnen Büchern und Manuskripten zu entdecken. Kadaré schrieb viel mit der Hand. Selbst auf den Schreibmaschinenseiten gibt es noch jede Menge Ergänzungen und Veränderungen. In einem beeindruckenden Regal, das eine ganze Wand ausfüllt, findet man alle Romane und die weltweiten Übersetzungen.

Neben klassischer Musik und französischen Chansons steht bei den Schallplatten die englische Popgruppe Dire Straits mit ihrem Album Brothers in Arms. Vielleicht das Geschenk eines Besuchers oder eine stille Liebe, denn laut konnte die Platte in einem Mietshaus in Tirana nicht gehört werden. Daneben ein Fernsehapparat, der Kadaré, wie vielen anderen in Albanien auch, die Möglichkeit bot, italienische Programme zu empfangen.

Und natürlich werden Familienfotos und Aufnahmen von Auslandsreisen, die meisten davon in schwarz-weiß, ausgestellt. Paris, wo der Autor heute einen Teil des Jahres wohnt, scheint immer schon eine große Anziehungskraft gehabt zu haben. Nach 1970 war Kadaré für einige Jahre Parlamentsabgeordneter. Leider gibt das Museum darüber keine Auskunft und auch nicht, wie das Verhältnis von Maks Velo zu dem Schriftsteller nach 1990 war.

Von der Schmalseite des Hauses leuchtet seit einiger Zeit zumindest ein großes Wandgemälde, auf dem beide zu sehen sind. Dazu viele Bücher, ein Globus und eine Katze, die ihren Kopf unter einem aufgeschlagenen Buch versteckt.

Nachtrag: Während man dem Architekten Maks Velo in den 1970er Jahren einen dekadenten kapitalistischen Einfluss vorwarf und ihm damit acht Jahre seines Lebens stahl, wird heute, vor allem in englischsprachigen Veröffentlichungen das Gebäude als typical for communist architecture bezeichnet.