Fahrradinfrastruktur in Baden-Württemberg

Interview

In diesem Interview wird betont, wie wichtig es ist, die Fahrradinfrastruktur in Baden-Württemberg auszubauen, insbesondere im Hinblick auf den Umweltschutz und die Klimakrise. Winfried Hermann nennt verschiedene Maßnahmen, um den Radverkehr zu unterstützen, wie den Ausbau des RadNETZ Baden-Württemberg, die finanzielle Unterstützung für Kommunen, die Einführung von Radschnellwegen sowie Initiativen zur Verbesserung der Barrierefreiheit und der Fahrradkultur. Außerdem wird die Wichtigkeit der Beteiligung der Bürger*innen und der Zusammenarbeit mit Organisationen wie dem ADFC betont, um die Nutzung von Fahrrädern effektiv zu erhöhen und die Ziele des Koalitionsvertrags von 2021 zu erreichen.

Das Bild zeigt eine Person mit Brille und einem Anstecker, die direkt in die Kamera blickt. Über der Person steht in einer Schriftleiste: "Mit Verkehrsminister Winfried Hermann im Gespräch: Fahrradinfrastruktur in Baden-Württemberg". Im Hintergrund ist unscharf eine Gebäudestruktur zu erkennen.

Mit Verkehrsminister Winfried Hermann im Gespräch: Fahrradinfrastruktur in Baden-Württemberg - Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg

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Annika Ernst: Der Ausbau der Fahrradinfrastruktur ist gerade in Zeiten der Klimakrise sehr wichtig, da er die umweltfreundliche Mobilität fördert und somit zur Reduzierung von Luftverschmutzung und Treibhausgasemissionen beiträgt. Daher wurde auch im Koalitionsvertrag von 2021 das Ziel formuliert, den Radverkehrsanteil bis 2030 auf 20 Prozent zu steigern. Deshalb wäre nun meine erste Frage: Welche Schritte unternehmen Sie, um dieses Ziel zu erreichen und wie beurteilen Sie den aktuellen Stand der Umsetzung?

Winfried Hermann: Man braucht mehrere Ansätze, wenn man den Fahrradanteil erhöhen möchte. Zum einen muss man die Infrastruktur ausbauen, also die Radwege – das Radwegenetz, besser gesagt. Wir legen großen Wert darauf, dass es ein durchgängiges Landesradwegenetz gibt. Wir haben ein RadNETZ Baden-Württemberg, das schon 8.000 Kilometer Radwege umfasst und 700 Gemeinden anschließt. Dieses ist noch nicht überall imbesten Standard, aber auf dieses Ziel arbeiten wir hin. Bis 2030 wollen wir dieses in einem guten bis sehr guten Standard realisieren. Wir unterstützen dabei die Kommunen, denn in ihrer Verantwortung liegen 80 Prozent der Radwege im Land. Deswegen fördern wir die Vorhaben der Kommunen über das Landesgemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (kurz: LGVFG) mit bis zu 75 Prozent.

Zeitgleich bauen wir als Land entlang der Landesstraßen und Bundesstraßen die Radwege weiter aus. Wir haben einen Bedarfsplan, der den Ausbaufahrplan für Radwege für die nächsten Jahrzehnte skizziert und bis 2040 reicht. Das heißt, wir haben eine langfristige Ausbauperspektive.

Wir fördern die „Arbeitsgemeinschaft Fahrrad- und Fußgängerfreundlicher Kommunen“, die den Wissenstransfer und den Austausch zwischen den Kommunen sicherstellt und wir unterstützen Kreise und Städte mit Personalstellen. Eine sehr wichtige Beschleunigungsunterstützung ist, dass jeder Stadt- und Landkreis eine Stelle für eine oder einen Radkoordinator:in durch das Land gefördert bekommen kann. Über das Landesmobilitätsgesetz möchten wir zudem diese Stellen gesetzlich verankern. Wir haben festgestellt, dass die Kreise eine wichtige Funktion als Unterstützung für kreisangehörige Kommunen haben und als Scharnier zwischen Land und Kommunen dienen. So greifen unsere Förderprogramme besser. Zusätzlich ist es von Bedeutung, sich für die Radkultur vor Ort einzusetzen. Die RadKULTUR ist in Baden-Württemberg eine vom Verkehrsministerium finanzierte Initiative, die es bereits seit über zehn Jahren gibt. Sie umfasst verschiedene ganzjährige Aktivitäten, um eine fahrradfreundliche Umgebung zu schaffen und das Radfahren im Alltag präsent und attraktiv zu machen. Wir führen RadChecks zu verschiedenen Anlässen durch und veranstalten das STADTRADELN jeden Sommer in Kooperation mit dem Klima-Bündnis. Hier haben wir in fünf Jahren größenordnungsmäßig eine Steigerung der Teilnehmerzahl von 30.000 auf über 200.000 Personen verzeichnet. Das hat richtig was bewirkt.

Annika Ernst: Bis 2020 sollte ja auch ein landesweites, hierarchisch abgestuftes Radverkehrsnetz mit definierten Qualitätsstandards existieren. Können Sie einmal den aktuellen Stand der Umsetzung dieses Ziels erläutern und wie Sie den Erfolg dieser Bemühungen bewerten?

Winfried Hermann: Wir sind schon weit vorangekommen. Das knapp 8.000 Kilometer lange RadNETZ BW ist inzwischen komplett beschildert und gut befahrbar mit noch ein paar wenigen Ausnahmen. Es müssen allerdings dringend die noch existierenden Lücken im Radwegenetz geschlossen werden. Außerdem liegt bei knapp der Hälfte des Netzes noch nicht der hohe angestrebte Qualitätsstandard vor. Das RadNETZ gestalten wir in den kommenden Jahren noch deutlich attraktiver. Auf besonders hoch belasteten Pendlerstrecken bauen wir Radschnellverbindungen. Das sind sehr breite, direkte und kreuzungsarme Radwege, um möglichst viele Menschen, insbesondere Pendlerinnen und Pendler, zum Umsteigen zu motivieren. Die Kreise, Städte und Gemeinden bauen ebenfalls die örtlichen Radnetze aus, um die überregionalen Verbindungen zu verdichten.

Annika Ernst: Und wie wird die Bereitstellung von Park-and-Ride-Einrichtungen gerade an Knotenpunkten desöffentlichen Verkehrs und Radwegen gefördert, um die Kombination von Rad und öffentlichem Verkehr attraktiver zu gestalten? Stichwort Multimodalität.

Winfried Hermann: Wir haben ein Förderprogramm für multimodale Hubs. Hier fördern wir über das gleiche Gesetz: das Landesgemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Wir haben mittlerweile 50.000 sichere Abstellplätze inBaden-Württemberg und wollen die Kommunen mit attraktiven Förderungen dabei unterstützen, bis 2030 das Angebot auf 100.000 Stellplätze zu erhöhen. Bei den multimodalen Hubs wissen wir nicht genau, wie viele es inzwischen gibt, weil die jeweils unterschiedliche Namen haben und weil es kein Register gibt, in dem diese aufgelistet werden müssen. Dazu machen wir uns gerade kundig. Manche nennen es Mobilitätshub, andere nennen es Hubs, einige nennen es Verkehrspunkte oder Radstationen. Wir gehen jedenfalls davon aus, dass es mindestens 300 multimodale Stationen gibt. Multimodal heißt, dass mindestens drei verschiedene Verkehrsarten zusammenkommen. Wir haben zusätzlich auch Stelen konstruieren lassen, die die Sichtbarkeit herstellen. Kurzum: Es gibt schon ziemlich viel. Der Schwerpunkt der letzten Jahre war es, sichere Abstellmöglichkeiten zu fördern, also Radboxen oder auch größere Radhäuser. Jetzt folgen die multimodalen Hubs, bei denen neben dem Fahrrad noch Carsharing-Angebote oder Leihräder dazukommen.

Annika Ernst: Wie wird denn sichergestellt, dass die Radinfrastruktur auch für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen zugänglich ist? Und wie werden barrierefreie Radwege gefördert?

Winfried Hermann: Barrierefreiheit ist für uns ein klares Leitbild in allen Bereichen der Verkehrspolitik. Zudem ist es eine Grundvoraussetzung, wenn Fördermittel des Landes bereitgestellt werden. Oftmals ist das, was Rollstuhlfahrende stört, genauso störend für Radfahrende. Also gilt: Kanten absenken, ausreichend breite Radwege bauen, damit auch Menschen mit Spezialräder wie Trikes diese nutzen können, ebenerdige Einstiegsmöglichkeiten schaffen, öffentlichen Verkehr ermöglichen. Wir haben es in Baden-Württemberg so geregelt, dass Fahrräder in allen Zügen des Nahverkehrs kostenfrei mitgenommen werden können. Nur in der Hauptverkehrszeit nimmt der ein oder andere Verbund etwas Geld dafür. Klar ist natürlich, dass Mobilitätseingeschränkte in unserer Gesellschaft jeden Tag vor sehr vielen Herausforderungen stehen. Das Radkann man zum Beispiel schnell tragen, den Rollstuhl nicht. Es ist sehr wichtig, dass wir Barrierefreiheit an Bahnstationen und an Bushaltepunkten schaffen oder Rampen in den Fahrzeugen zum Standard machen. Wir achten sehr darauf, dass Busse, die von uns gefördert werden, barrierefrei sind. Außerdem zeigen die vom Land erstellten Musterlösungen für die Radverkehrsinfrastruktur auf, wie barrierefreie Infrastruktur aussieht, sodass sich auch mobilitätseingeschränkte Personen auf den Rad- und Fußwegen gut zurechtfinden können.

Annika Ernst: Dann jetzt noch eine Frage zur finanziellen Förderung und Unterstützung. Welche finanziellenMittel stehen zur Verfügung, um die genannten Ziele des Koalitionsvertrags 2021 zu erreichen?

Winfried Hermann: Da handelt es sich um verschiedene Töpfe. Wenn man sagt: ‚so und so viele Millionen‘, ist das nie eine ganz korrekte Angabe, weil das mal mehr, mal weniger sein kann. Aber jetzt mal grob, sodass man eine Orientierungsmarke hat: In diesem Jahr standen für Radwege an Bundesstraßen knapp 18 Millionen Euro zur Verfügung, bei Landesstraßen ca. 27 Millionen Euro. Im kommenden Jahr werden in Summe voraussichtlich vergleichbare Beträge für Radwege an Bundes- und Landesstraßen in Baden-Württemberg zur Verfügung stehen. Darüber hinaus unterstützen wir die Kommunen in Baden-Württemberg beim Ausbau ihrer Radinfrastruktur mit Förderungen aus dem LGVFG. Für die kommunalen Rad- und Fußverkehrsprojekte stehen jährlich 30 Millionen Euro zur Verfügung, außerdem können wir derzeit noch auf vorhandene Reste der Vorjahre zugreifen. Vor allem im Außerortsbereich werden häufig gemeinsame Wege für den Rad- und Fußverkehr gebaut, innerorts schauen wir darauf, dass sie – wenn möglich – getrennt werden. Und wir sorgen jetzt auch dafür, dass sich die Kommunen in sogenannten kombinierten Anträgen in ein Bundesprogramm einklinken können. Denn Baden-Württemberg stehen seitens des Bundes im Sonderprogramm Stadt und Land von 2021 bis 2028 rund 200 Millionen Euro für den Ausbau der kommunalen Radinfrastruktur zur Verfügung.

Durch die kombinierte Antragsstellung der Bundes- und Landesförderprogramme können Kommunen mit wenig Aufwand attraktive Fördersätze von bis zu 90 Prozent der Kosten erreichen. Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass wir die Mittel kontinuierlich gesteigert haben. Im Moment kann ich festhalten, dass Geld nicht derbremsende Faktor ist. Der bremsende Faktor ist eindeutig, dass es zu wenig Baupläne gibt. Es gibt zu wenig Planerinnen und Planer, genauso wie Fachingenieurinnen und Fachingenieure und Bauende. Das ist der eigentliche Engpass. Das gilt aber inzwischen für fast alle Bereiche, die in den letzten Jahren massivweiterentwickelt wurden – zum Beispiel auch für die Schiene.

Annika Ernst: Jetzt noch ein paar Fragen zu Radschnellwegen bzw. Radschnellverbindungen. Wie sieht dennder aktuelle Fortschritt bei der Realisierung der 20 Radschnellverbindungen aus, wie sie im integrierten Energie- und Klimakonzept bis 2030 festgelegt sind?

Winfried Hermann: Wir haben hier einen mehrstufigen Plan. Wir wollen bis 2026 zehn und bis 2030 zwanzig Radschnellwege schaffen. Für über 60 Strecken haben wir sogar Machbarkeitsstudien erstellt, die alle zu 80 Prozent gefördert wurden, teilweise auch mit Bundesmitteln. Deshalb können wir sagen, dass wir viele Strecken haben, überall wird geplant und diskutiert. Wenn ich sage 'diskutiert', meine ich, dass von Anfang an eine sehr hohe Beteiligung stattgefunden hat. Das bedeutet, es wird sehr breit diskutiert, sowohl mit den Fahrradverbänden und Umweltverbänden als auch mit den Initiativen vor Ort und den Gemeinderäten. Oft ist das Land oder der Landkreis für die Planung zuständig. Aber wenn die Gemeinden mehr als 30.000 Einwohnerinnen und Einwohner haben, sind sie eigenverantwortlich für die Planung. Daher achten wir sehr darauf, dass es eine breite Beteiligung gibt. Und das ist auch inzwischen die Krux: Wenn viele mitreden und Vorschläge überprüft werden, dauern die Prozesse länger. Überall sind wir aktiv, treiben die Projekte voran und alle wollen einen Radschnellweg in ihrer Kommune haben. Aber die Planung gestaltet sich als sehr aufwendig und oft als schwierig. Trotzdem haben wir bereits einige Abschnitte fertiggestellt. Ein Erfolgsprojekt ist der Radschnellweg 1 von Stuttgart nach Herrenberg. Dort sind bereits über zehn Kilometer fertiggestellt. Auch in Mannheim und im Filstal haben wir schon Teilstücke der dort geplanten Radschnellwege umgesetzt. Die ersten Abschnitte vonschönen, breiten Radschnellwegen sind also vorhanden, und in den kommenden Jahren werden sukzessive mehr und mehr hinzukommen.

Annika Ernst: Und wie gut wird der Radschnellweg jetzt zwischen Stuttgart und Herrenberg angenommen? Ich glaube, der Abschnitt zwischen Stuttgart und Sindelfingen und Böblingen ist ja bis jetzt komplett fertig, oder?

Winfried Hermann: So ist es und er wird auch sehr gut angenommen. Vor der Sommerpause konnten wir den millionsten Nutzer begrüßen. Leider ist der Anschluss in Stuttgart noch nicht richtig gelöst, deshalb ist hier sogar noch Potential für eine Steigerung. Wenn das mal sichergestellt wird, dass man gut nach Stuttgart rein- und wieder aus Stuttgart rauskommt, dann wird es natürlich einen deutlichen Zuwachs geben. Aber der Weg wird auch jetzt schon sehr gut angenommen.

Annika Ernst: Sie haben es ja auch schon angeschnitten, dass die Bürgerinnen und Bürger auch mit in die ganzen Prozesse einbezogen werden. Wie genau sieht das dann aus? Sind das dann Bürgerbeteiligungen?

Winfried Hermann: Ja, je nachdem, wenn es Planfeststellungsverfahren gibt, dann gibt es eine formale Bürgerbeteiligung. Aber wir initiieren in aller Regel schon sehr früh eine Beteiligung. Ich selbst habe mehrfach dazu eingeladen, die geplante Strecke abzufahren und zu überlegen, wo bestehende Wege genutzt werden können, sei es ein Feldweg, ein kleiner Radweg oder eine Straße, die eventuell zu einer Radstraße umgewandelt werden könnte. Da war ich in Mannheim, in Heidelberg, in Böblingen, Sindelfingen, Stuttgart, dann in Reichenbach und Esslingen. In der Regel waren 10 bis 50 Radfahrende dabei, die sich die Strecke angesehen und Vorschläge gemacht haben. In der Nähe von Freiburg waren es, glaube ich, sogar noch mehr Teilnehmende. Großes Interesse ist auf jeden Fall vorhanden, was uns natürlich freut.

Allerdings wird es bei so reger Beteiligung für uns und vor allem für die Planende nicht weniger aufwendig. Irgendwann muss immer eine Entscheidung getroffen werden. Oft denkt man vor Ort, es gäbe die eine optimale Trassenvariante, aber jede Variante hat leider auch immer Nachteile. Wenn sie sehr direkt und ohne Kreuzungen, also schnell ist, liegt sie oft weiter von den Ortschaften entfernt, was den Weg dorthin zum Nachteil macht. Wenn ich die Trasse aber stadtnah plane, kann ich meistens keinen direkten, kreuzungsfreien Radschnellweg durch die Stadt führen und benötige vielleicht eine Fahrradstraße, was die Geschwindigkeit wieder reduziert. Oder manchmal ist der schnellste Weg auch der Teuerste, weil ich noch eine Brücke oder Unterführung bauen muss. Dann ist der schnelle Weg eben nicht schnell fertig. So muss man ständigbestmögliche Kompromisse finden.

Die Planungsaufgabe des Landes wird von den Regierungspräsidien übernommen. Bei den Pilotprojekten bin ich oft persönlich in die Pedale gestiegen und habe Bürgerinnen und Bürger eingeladen. Zum Teil habe ich auch ein bisschen zur Versöhnung beigetragen. Das hoffe ich zumindest. Manchmal ist es so, dass zum Beispiel der BUNDsagt: ‚Diese Trassenführung geht auf gar keinen Fall aus Naturschutzgründen‘. Und der ADFC, der sagt aber: ‚Das, was ihr vom BUND vorschlagt, das ist aber überhaupt nicht fahrradfreundlich‘. Da muss man als Behörde und als Land den Weg dazwischen finden.

Annika Ernst: Habe ich das vorhin richtig verstanden, dass das Land die Radschnellwege zu 100 % finanziert?

Winfried Hermann: Die Radschnellwege in Landesbaulast, die werden auch durch das Land finanziert, ja. Bei einer Förderung eines Radschnellwegs in kommunaler Baulast sind ist nicht ganz 100 Prozent, aber wir fördern bis zu 90 Prozent. Da sind dann auch Bundesmittel dabei. Auch hier haben wir die Bundes- und Landesförderung kombiniert, damit die Kommunen attraktive Unterstützungsangebote erhalten.

Annika Ernst: Dann jetzt noch die letzten zwei Fragen zu den Forderungen des ADFC. Der Allgemeine Deutsche Fahrradclub fordert eine deutliche Verdichtung des RadNETZ und bemängelt, dass nur 700 der 1.100 Kommunen im Land angeschlossen sind. Wie planen Sie denn, die Anbindung aller Kommunen zu gewährleisten?

Winfried Hermann: Zunächst ist es wichtig zu betonen, dass unsere Förderprogramme für alle Kommunen offen sind und darauf abzielen, nicht nur einzelne Wege zu fördern, sondern auch den Stellenwert der Maßnahme und die Position im Gesamtnetz berücksichtigen. Das führte dazu, dass wir zu Beginn einige Förderanträge ablehnen mussten, weil wir darauf bestanden haben, dass zunächst eine Netzplanung durchgeführt werden sollte. Als Land sind wir dafür verantwortlich, ein Landesnetz zu entwickeln, dass in diesem Fall die Mittel- und Oberzentren des Landes miteinander verbindet und als Grundgerüst dient. Ähnlich wie die Bundesstraßen im Straßenverkehr. Die Kommunen und Landkreise sind für ihr eigenes Netz verantwortlich. Ihre Aufgabe ist es, das Radnetz weiter zu verdichten und alle Städte und Gemeinden inklusive den Teilorten anzuschließen.

Wir sind ein Teil dieses Prozesses, aber es ist wichtig zu betonen, dass 80 Prozent aller Radwege kommunale Radwege sind. Daher müssen die Kommunen ihr eigenes Netz aufbauen und sicherstellen, dass es mit dem Landesnetz verknüpft ist. Es ist jedoch keine einseitige Anstrengung, bei der die Kommunen allein arbeitenmüssen. Unsere Leute bemühen sich darum, mit kommunalen Vertreterinnen und Vertretern zusammenzuarbeiten, um die Verbindung zwischen den kommunalen und den Landesnetzen zu optimieren. Wir müssen darauf achten, dass vor allem die kleinen Gemeinden mit wenigen Ressourcen ausreichend Unterstützung seitens der Kreise und des Landes erhalten. Denn auch sie sind für eine durchgängige Radinfrastruktur wichtig.

Annika Ernst: Ja, ich komme vom Dorf, da kenne ich das. Da ist eher der Waldweg die Norm.

Winfried Hermann: Das ist ja auch nicht schlimm, wenn es den Wald gibt zur Nutzung. Wenn es ein schöner Weg ist, wenn er sicher ist und wenn er gut befahren werden kann. Für den Alltagsverkehr halten wir hier eine Asphaltierung für notwendig. Im Freizeitverkehr kann es auch ein gut ausgebauter Waldweg mit wassergebundener Decke sein. Schlimm ist allerdings, wenn es nur gefährliche Strecken gibt.

Da wäre ich noch bei einem letzten Punkt, den ich gerne noch vorstellen möchte: Gemeinsam mit dem Kultusministerium und dem Innenministerium haben wir das Landesprogramm 'MOVERS – Aktiv zur Schule' ins Leben gerufen. In diesem Rahmen qualifizieren wir Beraterinnen und Berater für Schulen und Kommunen, damit sie gemeinsam mit den Schulen und den Kommunen in der Lage sind, sichere und aktive Schulwege zu gestalten. Wir wollen, dass Kinder und Jugendliche selbst aktiv zur Schule gehen, also nicht immer von den Eltern gefahren werden, sondern entweder mit dem Fahrrad oder zu Fuß kommen. Und da ist es elementarwichtig, dass die Rad- und Fußwege sicher sind. Das ist vielleicht ein Punkt, den man auch ganz generell noch sagen muss: Die Angst ist für viele die zentrale Barriere. Also, dass man Angst hat vor Unfällen mit den Autos, mit denen man sich die Straße teilt. Deswegen wollen wir, wo immer es geht, sichere separate Radwege haben.Und wenn man das schafft, dann kann man auch die Angst abbauen. Und gerade für Kinder und Jugendliche ist dies ganz besonders wichtig.

Annika Ernst: Ja, ich studiere in Konstanz und da ist es auf jeden Fall supertoll. Also, da benutzt auch wirklich jeder das Fahrrad und man fühlt sich total sicher. Da bin ich auf jeden Fall sehr begeistert.

Winfried Hermann: Sie haben mich vorhin gefragt, wie weit wir von unserem Ziel entfernt sind, die Fahrradnutzung zu verdoppeln. Ich habe diese Frage nicht direkt beantwortet, da wir es nicht so ganz einfach sagen können. Vor etwa zwölf Jahren, als wir mit unseren Bemühungen angefangen haben, schätzte man den Anteil des Radverkehrs auf etwa acht Prozent. Wir hatten damals keine genauen Daten, daher war dies eher eine grobe Schätzung. Aus verschiedenen Messungen lässt sich erkennen, dass die Fahrradnutzung in den letzten Jahren zugenommen hat. Vor allem die COVID-19-Pandemie hat dem Fahrradverkehr einen kräftigen Schub gegeben. Auch das Job Bike hat zu einem Schub beigetragen und die neuen Pedelecs haben einen richtig durchschlagenden Erfolg, vor allem weil längere Strecken gefahren werden. Dazu noch Cargo Bikes, mit denen Eltern ihre Kinder zur Schule oder in den Kindergarten bringen. Das hat alles dazu geführt, dass die Fahrradnutzung zugenommen hat. Wir wissen aber vor allem bei einzelnen Städten, dass dort der Fahrradanteilsehr hoch ist. Dazu gehören Konstanz, Tübingen, Freiburg, Heidelberg, also die klassischen Unistädte, die aberauch meistens günstig, also eben, liegen. Tübingen ist nicht ganz so eben und damit günstig, was Radverkehr anbelangt, aber trotzdem hat es einen hohen Anteil. Und dann gibt es auch andere Städte, von denen man es nicht direkt denkt, wie zum Beispiel Karlsruhe, Offenburg oder Mannheim, die ebenfalls einen relativ hohen Anteil haben. Auch in der Fläche können wir erstaunliche Zuwächse verzeichnen: Der Ortenaukreis hatte bei der kürzlich veröffentlichten Verkehrserhebung bereits einen Radverkehrsanteil von 21 Prozent. Stuttgart wird langsam ebenfalls mehr zu einer fahrradfreundlicheren Stadt, insbesondere durch den Erfolg der Pedelecs, diedie hügelige Topografie weniger hinderlich machen. Und wenn ich sage hohe Anteile, dann meine ich beispielsweise: Freiburg hat zum Beispiel inzwischen schon einen Anteil von über 30 Prozent. Das heißt hohe Anteile sind bei uns dann jetzt schon 20 Prozent plus x.

Annika Ernst: Dann habe ich noch eine letzte Frage. Wie plant denn Ihr Ministerium mit dem ADFC und der breiten Radcommunity insgesamt in einen Dialog zu treten, um die Umsetzung dieser Forderung zu diskutieren und sicherzustellen, dass die Interessen der Radfahrenden angemessen vertreten werden?

Winfried Hermann: Na ja, das müssen wir nicht organisieren. Seitdem ich in der Regierung bin, haben wir einen regelmäßigen und direkten Austausch mit dem ADFC. Ich nehme an Veranstaltungen des ADFC teil und der ADFC ist Partner unserer 'Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundliche Kommunen'. Der ADFC ist auch bei Planungen von Radschnellwegen zum Beispiel immer eingebunden.

Wenn wir neue Pläne entwickeln, sind sie oft bereits in der Frühphase involviert und bringen ihre Expertise ein. Einige von ihnen sind auch in Beiräten für verschiedene Mobilitätsthemen vertreten. Ich denke nicht, dass siesich darüber beschweren können, dass wir nicht auf sie hören. Im Gegenteil, ich bin sehr dankbar, dass es den ADFC gibt, weil es da viele Leute hat, die echt kompetent sind, was Radfahren anbelangt und die gute Ideen haben.

Annika Ernst: Super, vielen Dank. Das wäre es schon von meiner Seite aus.

Winfried Hermann: Dann sage ich auch Danke fürs Interesse.


Dies ist eine erweiterte, redigierte Fassung des Interviews.