Neue Verfassung für Chile: Einen Monat vor dem Plebiszit

Analyse

Am 4. September findet in Chile eine der wichtigsten Abstimmungen, wenn nicht sogar die wichtigste seit mehr als 30 Jahren statt. 1988 sagte die Bevölkerung „Nein" zur Fortführung der Diktatur von Augusto Pinochet. Heute muss sie sich erneut entscheiden: zwischen der bestehenden Verfassung aus Diktaturzeiten oder der ersten Magna Carta der Welt, die auf demokratische, partizipatorische und paritätische Weise erarbeitet wurde.

Der chilenische Verfassungskonvent, ein Gremium aus jeweils 77 demokratisch gewählten Männern und Frauen, hatte genau ein Jahr Zeit, eine neue Verfassung für Chile auszuarbeiten. Die Forderungen derer, die nach den sozialen Protesten im Oktober 2019 auf die Straße gingen, sollten dort eingearbeitet werden.

Doch nur einen Monat vor der Volksabstimmung über den vom Konvent vorgelegten Vorschlag sind die Befürworter:innen vor allem mit Falschmeldungen über den angeblichen Inhalt konfrontiert. So wird behauptet, die neue Verfassung erlaube Abtreibungen bis zum neunten Monat, Arbeitnehmer:innen wären nicht mehr Eigentümer:innen ihrer Rentenersparnisse, Wohnraum würde ausschließlich dem Staat gehören und es gäbe kein Recht auf ein eigenes Haus.

Diese und andere Behauptungen sind Teil einer Kampagne von Falschdarstellungen, Ungenauigkeiten und böswilligen Interpretationen der Inhalte des Verfassungsprojekts, die die BBC dazu veranlasste, die Atmosphäre im Vorfeld der Abstimmung als „brutal“ zu bezeichnen. Die hart umkämpften Debatten sind von (angeblichen) praktischen Auswirkungen der einzelnen Artikel geprägt – ein Terrain voller Spekulationen, das von den Gegner:innen des Textes genutzt wird, um Zweifel zu säen. Dabei wird auch vor sensiblen Themen, wie dem Wohnraum und den Ersparnissen der Ärmsten, nicht haltgemacht.

Das Hauptproblem ist, dass die Lügen nicht nur von irgendwelchen Nutzer:innen in sozialen Netzwerken, sondern auch von einflussreichen Persönlichkeiten, hauptsächlich rechten und rechtsextremen Politiker:innen, die mit den Gegner:innen der neuen Verfassung verbandelt sind, verbreitet werden. In Fernsehsendungen werden diese Lügen zudem ständig als Wahrheiten wiederholt. So verteidigen selbst Konventmitglieder, die an der Ausarbeitung der neuen Verfassung beteiligt waren, auf der Grundlage von falschen Interpretationen lautstark Behauptungen, die von verschiedenen Verfassungsexpert:innen und Journalist:innen bereits als Unwahrheiten eingestuft worden sind.

Die Fake-News-Kampagne ist so stark, dass die Hauptstrategie der Befürworter:innen der neuen Verfassung darin besteht, den Originaltext zu verteilen, die einzelnen Artikel zu verbreiten und zum Lesen anzuregen. Auch die Regierung hat kostenlose Exemplare zur Verfügung gestellt, und sogar Präsident Gabriel Boric selbst, der die neue Magna Carta maßgeblich vorangetrieben hat, liest Passagen vor. „Beide Optionen sind legitim, aber die Entscheidung, die Sie treffen, sollte auf dem basieren, was im Text steht und nicht auf den Lügen, die im Umlauf sind“, sagte er auf einer Pressekonferenz Ende Juli.

Chile in den Umfragen

„Hoffnung“ und „Ungewissheit“ sind mit jeweils 38 Prozent die häufigsten Emotionen der Bevölkerung im Hinblick auf das anstehende Verfassungsplebiszit. Dies geht aus der jüngsten Ipsos-Umfrage hervor, die in Zusammenarbeit mit der Denkfabrik Espacio Público durchgeführt wurde und eine eher qualitative Bewertung des Prozesses widerspiegelt.

Dieses Klima zeigt sich aber auch in quantitativen Umfragen. Die verschiedenen Erhebungen haben alle einen deutlichen Vorsprung der Ablehnungsoption ergeben; allerdings hat sich der Trend seit dem 4. Juli gedreht – als der Verfassungskonvent dem Präsidenten und dem Land den Vorschlag vorlegte. Die jüngsten Umfragen (Cadem/Plaza Pública und Criteria Research) zeigen einen Vorsprung der Ablehnungsoption von 10 Prozentpunkten: 48 zu 38 Prozent bzw. 45 zu 36 Prozent. Anfang Juli lagen die beiden Optionen noch fast 20 Prozentpunkte auseinander.

Das Meinungsforschungsinstitut Cadem veröffentlichte zuletzt einen Gleichstand bezüglich des von den Menschen erwarteten Ergebnisses: Jeweils 46 Prozent glauben, dass die neue Verfassung angenommen bzw. abgelehnt wird. Criteria Research sieht sogar eine kleine Mehrheit ersterer (41 zu 36 Prozent).

„Wir befinden uns in einem Moment großer Unsicherheit“, sagt die Politikwissenschaftlerin Julieta Suárez-Cao. Der Verfassungsentwurf ist mit fast 70.000 verkauften Exemplaren in einer Woche das erfolgreichste Sachbuch des Landes. Beinahe genauso schnell verbreiteten sich jedoch die Unwahrheiten über den Inhalt. „Seit dem 4. Juli gibt es mehr Informationen über den Text. Er musste sich in einem Klima von Fake News und Meinungsmache durchsetzen, das in den letzten Monaten im Konvent kreiert wurde – und gegen Themen, die nie in der Verfassung standen, aber von den Medien aufgegriffen und so in der Erinnerung der Menschen geblieben sind“, fügt sie hinzu.

Yanira Zúñiga, Juristin an der Universidad Austral de Chile, betont, dass verfassungsgebende Plebiszite an sich eine Polarisierung erzeugen. „Wenn wir dazu noch die Anreize der politischen Eliten Lateinamerikas zur Verbreitung verzerrter Informationen hinzufügen, dann entsteht ein perfekter Sturm, der die schwächsten Sektoren trifft“, so Zúñiga. Sie hebt die zentralen Veränderungen der neuen Verfassung hervor, darunter ein transversaler Feminismus, Parität, Plurinationalität und Dezentralisierung. „Diese neue Verfassung wurde international viel beachtet. Unabhängig davon, ob sie angenommen wird oder nicht, wird sie wahrscheinlich als Diskussionsgrundlage für andere Verfassungsprozesse oder Gesetze dienen“, sagt sie.

Das Comeback von Maipú

Angesichts dieses Szenarios versicherte das ehemalige Konventsmitglied Beatriz Sánchez, eine der Anführerinnen des regierenden Parteienbündnisses Frente Amplio: „Wir haben den ganzen Juli, um unentschieden zu sein, und den ganzen August, um zu gewinnen“. Dass am Ende nicht die Umfragen, sondern die Straße entscheidet, ist mittlerweile zur zentralen Strategie der Befürwortungs-Kampagne geworden.

Eines der Ereignisse, die den Monat Juli prägten, war der so genannte „Apruebazo“, der am Samstag, dem 23. Juli, in Maipú stattfand, einer der bevölkerungsreichsten Gemeinden im Südwesten von Santiago. An dieser von der Befürwortungs-Kampagne organisierten Großveranstaltung, an der sich auch mehrere Künstler:innen und Musiker:innen beteiligten, nahmen Tausende von Menschen teil und gaben dem Land das deutliche Signal, dass der Kampf begonnen hat und die Straße etwas anderes sagt als die Umfragen. In der darauffolgenden Woche startete die Kampagnentour „Zwei Millionen Häuser für die Zustimmung“, die bis zum 4. September durch das ganze Land touren und so mindesten zwei Millionen Haushalte erreichen – und von der neuen Verfassung überzeugen will.

„Eines der Probleme des Frente Amplio war bisher die fehlende Verbindung in die Regionen“, meint Tomás Duval, politischer Analyst von der Autonomen Universität Chile. „Dieses Problem ist nur schwer zu beheben, aber ich sehe, dass man sich bemüht hat. Ich denke, das ist richtig, denn Wahlen werden nicht in den sozialen Netzwerken gewonnen, sondern vor Ort.“ Die Politikwissenschaftlerin Suárez-Cao pflichtet ihm bei: „Es wird versucht, die erfolgreiche Strategie der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen zu wiederholen. Hier gab es einen großen Einsatz vor Ort. Es ist eine angemessene Strategie, ich weiß nicht, ob sie sich durchsetzen wird, aber sie geht in die richtige Richtung.“

Die Positionen der ehemaligen Präsident:innen

Ein weiterer Faktor für die Stimmungslage ist die allmähliche Positionierung ehemaliger Präsident:innen. Der erste war Eduardo Frei, ein Christdemokrat, der das Land von 1994 bis 2000 regierte. „Ich kündige an, dass ich für die Ablehnung stimmen werde (...) und fordere dazu auf, jene Aspekte ausfindig zu machen, die Teil einer umfassenden Verfassungsreform sein sollten“, sagte er nur wenige Tage, nachdem der Konvent den Entwurf vorgelegt hatte. Sein Nachfolger, Ricardo Lagos (2000-2006) deutete zunächst an, zur Ablehnung zu neigen, doch in den letzten Tagen machte er eine Kehrtwende und sprach von einem „großen Vorteil“, sollte die Verfassung angenommen werden.

Auch Michelle Bachelet (2006-2010 und 2014-2018), die derzeit ihre letzten Tage als UN-Hochkommissarin für Menschenrechte verbringt, sprach sich für die neue Verfassung aus: „Die neue Verfassung anzunehmen, ist der beste Ausgangspunkt, um das zu verwirklichen, was uns so lange vorenthalten wurde“, so Bachelet in einem Brief, den sie über ihre Stiftung Horizonte Ciudadano veröffentlichte. Der rechtskonservative Sebastián Piñera (2010-2014 und 2018-2022), der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Kontext der sozialen Proteste von Oktober 2019 angeklagt ist, schwieg bisher.

In beiden Lagern wird mittlerweile argumentiert, dass nach dem Plebiszit ein Reform- und Korrekturprozess der neuen Magna Carta eingeleitet werden sollte – eine Prämisse, an der auch Präsident Gabriel Boric und die Regierung zuletzt festgehalten haben. Für Duval hat das mit der geringen Legitimation des Konvents zu tun – und ist eine Reaktion auf veränderte Sichtweisen zu Themen wie Plurinationalität und  Justizsysteme.

Im Gegensatz dazu meint Suárez-Cao, dass Diskussionen über mögliche Reformen und Aussagen ehemaliger Präsident:innen vor allem Eliten ansprechen, nicht aber „die einfachen Bürger:innen, die bisher nicht gewählt haben“. Letztere, so ihre Einschätzung, werden bei der verpflichtenden Abstimmung am 4. September entscheidend sein. Vor Wiedereinführung der Wahlpflicht 2021 lag die Wahlbeteiligung in Chile lange unter 50 Prozent, bei Regionalwahlen sogar unter 20 Prozent. Beim ersten Verfassungsplebiszit 2020 wurde ein Höchstwert von knapp 51 Prozent erreicht (Anm. d. Red).

Auf der Zielgeraden

Im Gegensatz zu seinen Vorgänger:innen kann Präsident Gabriel Boric seine Zustimmung zur neuen Verfassung nicht öffentlich machen, da die Opposition ihm bereits „Interventionismus“ vorwirft und die Kontrollbehörden alarmiert hat – mit dem Ergebnis, dass er jedes Mal ein Risiko eingeht, wenn er auf das Plebiszit verweist. Für die Apruebo-Kampagne beginnt die heiße Phase des Wahlkampfes also ohne einen der Hauptbefürworter. In diesen letzten Wochen müssen sie nicht nur gegen Umfragewerte sondern auch gegen unehrliche Propaganda kämpfen. So erfolgt beispielsweise eine Aneignung von Logo und Farben des Verfassungskonvents zur Verbreitung von Flugblättern mit falschen Informationen.

Nach Angaben der Wahlbehörde Servel sind rund 14,8 Millionen Chileninnen und Chilenen sowie knapp 60.000 Ausländer:innen zur Teilnahme an diesem Plebiszit aufgerufen. In der Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen ist die Zahl der Wähler:innen am höchsten. Darüber hinaus weist diese Wahl noch nie dagewesene Besonderheiten auf; so werden auch Wahllokale in verschiedenen Strafvollzugsanstalten des Landes eingerichtet, so dass mehr als 7.000 Häftlinge ihre Bürger:innenpflicht wahrnehmen können.

Ein wichtiger Faktor ist die Zahl der Unentschiedenen, von der man annimmt, dass sie ausschlaggebend dafür sein wird, ob die neue Verfassung angenommen wird oder nicht. „Die letzten 15 Tage des Wahlkampfs werden für die Überzeugung der Unentschlossenen sehr essenziell sein“, meint Duval. „Bei den letzten Wahlen haben wir gesehen, dass sich die Menschen je nach aktueller Problemlage anschließen oder nicht, so dass von grundlegender Bedeutung ist, was die Kampagne in den letzten Tagen ans Licht bringt“, schließt er.

Entscheiden die Frauen das Plebiszit?

Bei der Wahl von Gabriel Boric zum Präsidenten waren vor allem die Frauen ausschlaggebend, meint Zúñiga. Auch beim Plebiszit machen sie 69 Prozent der Wahlberechtigten aus. „Die Stimme der Frauen ist eine konstantere Stimme. Nicht nur, weil sie quantitativ einen etwas größeren Anteil ausmachen, sondern auch, weil sie sich mehr an Wahlen beteiligen“, fügt sie hinzu.

In diesem Zusammenhang veröffentlichte die Humanas Corporation eine Umfrage über die Meinung und Wahrnehmung der Frauen zum Prozess der verfassungsgebenden Versammlung, aus der hervorgeht, dass rund 56 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass die vorgeschlagene neue Verfassung die Situation der Frauen im Land verbessern wird.

„Die feministischen Organisationen sind seit dem sozialen Ausbruch sehr aktiv, so dass es sehr wahrscheinlich ist, dass diese Gruppen, die sich aufgrund vieler enthaltener Geschlechterklauseln bereits für das Verfassungsprojekt ausgesprochen haben eine große, auch politische Unterstützung, sein werden“, schließt die Wissenschaftlerin.

Aus dem Spanischen von Caroline Kassin


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de