25 Jahre Genozid von Srebrenica - Nicht leugnen! Erinnern!

Analyse

Sie sprechen von damals, vom Sommer 1995, als sie Kinder waren, als sie eiligst ihre Spielsachen packen mussten, um sich vor den serbischen Truppen in Sicherheit zu bringen. Die Angriffe, die Ängste - die Welt schien für sie damals still zu stehen.

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Gedenktafel für die Opfer von Srebrenica, 2018.

Sie erzählen davon, wie es sich damals anfühlte, als die damalige sogenannte Schutzone der UNO eben keinen Schutz mehr bot.

Wie es sich anfühlte, als die Hoffnungen, von Internationalen vor dem Hass der anrückenden Serben beschützt zu werden, sich in Nichts auflöste. Damals, als die internationale Gemeinschaft einknickte vor der Gewalt, die ganz Bosnien seit 1992 überrollte und schließlich in Srebrenica kulminierte. Irgendwann, berichtet eine der Überlebenden, habe sie begriffen, dass sie keinen Vater mehr habe.

Die Videomitschnitte, die das Memorial-Center in Srebrenica erstellt hat, sind ein eindrucksvolles Dokument dessen, was vor 25 Jahren in dem kleinen Ort im Osten Bosniens passierte. Es sind die Erinnerungen von 100 Zeitzeugen, die ihre Brüder, Väter, Cousins und Onkel verloren – während der gravierendsten Verbrechen, begangen auf europäischem Boden, nach dem Nazi-Terror im Zweiten Weltkrieg. In Srebrenica wurden mehr als 8.300 Jungen und Männer, die Mehrzahl von ihnen Muslime, von serbischen Einheiten umgebracht. Vor dem Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag wurden die Taten dokumentiert und verurteilt, belegt durch unzählige Zeugenaussagen. Der Internationale Gerichtshof konstatierte: …“die Taten, die in Srebrenica begangen wurden, verfolgten das Ziel, die Gruppe der Muslime als solche zu zerstören.“ Völkermord.

Doch die Faktenlage und Gerichtsurteile reichen augenscheinlich nicht mehr aus, um die Erinnerung an dieses düstere Kapitel europäischer Geschichte aufrecht zu erhalten. Stattdessen nehmen die Leugnung der Gräueltaten und der Revisionismus zu, seit Jahren sickern sie in den politischen Diskurs ein und vergiften das politische Klima. Den Genozid, so behaupten serbische Politiker, gar Mitglieder des amtierenden bosnischen Staatspräsidiums, habe es mitnichten gegeben. Mit dieser Leugnung geht auch eine Glorifizierung der Täter einher: Die zahlreichen Mörder und Vergewaltiger, die Mitglieder der Erschießungskommandos, die Drahtzieher – sie alle gelten nicht wenigen nationalistischen Akteuren als Helden. 

Ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg verhindern diese Umdeutungen die dringend benötigte Aussöhnung in Bosnien und Herzegowina - und damit auf dem gesamten Balkan. 25 Jahre nach Kriegsende existiert noch immer kein stabiler Friede. Ihn kann es und wird es nicht geben, solange die begangenen Gräuel nicht beim Namen genannt und die Täter als Mörder und Verbrecher gelten.

Leugnung und Vertuschung von Anbeginn

Schon unmittelbar nach den Gewaltakten in der Gegend von Srebrenica begannen serbische Einheiten im Spätsommer 1995, die Toten aus den Massengräbern auszubuddeln und in andere Gräber zu verbringen, mitunter wurden die Leichenteile gleich mehrfach weggekarrt und an anderer Stelle verscharrt. Körperteile der Opfer wurden daher nicht selten an unterschiedlichen Orten gefunden – dieses grausame Detail erschwert bis heute die Arbeit zur Identifizierung der Toten. Noch immer fehlt die Spur von mehr als 1.000 Getöteten des Genozids. Negierung und Vertuschung – dieser Ansatz wurde seitens der Täter von Anbeginn verfolgt.

Statt Klarheit über die Fundorte und die politischen Verantwortlichkeiten kursieren heute krude Theorien, verrmeintlich anti-serbische Verschwörungen werden konstruiert, die Legitimation der Gerichte - insbesondere des Jugoslawientribunals in den Haag – in Frage gestellt. Wie weitreichend diese Tendenzen zur Relativierung und Leugnung bereits gehen, bewies das Nobel-Kommittee im Jahr 2019, indem es den Preis für Literatur ausgerechnet an den Österreicher Peter Handke vergab, einem Apologeten der Leugnungsmaschinerie, die die Aussagen jener Überlebender anzweifelt, die im Juli 1995 mitunter alle männlichen Familienmitglieder verloren haben. Handke verleiht den Verschwörungstheoretikern und Genozid-Leugnern eine prominente Stimme. Mit seiner Auszeichnung hievte das Nobel-Kommitee die Relativierung der Auslöschungsideologien im Kontext der Balkan-Kriege auf ein internationales Niveau.

Und auch andere Verbrechen des Bosnienkrieges werden systematisch verleugnet. Kroatische Nationalisten in Bosnien und Kroatien verherrlichen ihrerseits jene Taten, die im Kontext der Schaffung des Parastaates Herzeg-Bosna begangen wurden; sie wurden in Den Haag mit mehr als 110 Jahren Haft geahndet. Die Verurteilungen führten auch hier nicht zu einer Katharsis. Ganz im Gegenteil, heute wehen die verhängnisvollen Fahnen kroatischer Extremisten wieder wie selbstverständlich in den kroatisch-dominierten Gemeinden Bosniens.

Die Serben verfolgten derweil ihre eigenen Ziele: Mit der Auslöschung, mit der systematischen Tötung, Vergewaltigung und Vertreibung allen nicht-serbischen Lebens schufen sie auf „ihrem Territorium“, der Republika Srpska, jene gesellschaftliche Verfasstheit, die sie heute aufweist. Und eben dies war der historische Fehler des Friedensabkommens von Dayton, die „Kriegserfolge“ in letzter Konsequenz staatlich zu zementieren. Die politische Führungsgarde der RS unternimmt bis zum heutigen Tag alles, um die Funktionsfähigkeit des Gesamtstaates Bosnien zu untergraben, mit Unterstützung Belgrads konstruiert man eine vermeintliche „Staatlichkeit“, als sei die RS ein eigenständiges Gebilde, das sich nur zufällig in den bosnischen Staatsverband verirrt habe und dessen Zugehörigkeit nun dringend korrigiert werden müsse.

Neuer Hass statt Läuterung

Die politische Spitze der Republika Srpska verfolgt die Sezession wie ein heiliges Mantra. Von einer Minderung des nationalistischen Extremismus fehlt jede Spur. Im Gegenteil, es wächst eine Generation von Serben heran, die neuerlich stolz vor Wandbildern von Ratko Mladic posiert, jenem Serben-General, der den Genozid in Srebrenica orchestrierte. In der dortigen Schule huldigen serbische Schüler den Tschetniks, zum orthodoxen Weihnachtsfest laufen Serben durch das unscheinbare Örtchen und singen Hasslieder. Für all jene, die den Genozid überlebt haben, sind diese Entwicklungen mehr als erdrückend. „Habe ich meine ganze Familie verloren, damit am Ende doch alles wie damals ist?“, fragt einer der Überlebenden.

„Genozidleugnung ist eine der sichersten Indikatoren für künftige Gewalt”, konstatiert Emir Suljagic, Direktor des Memorial-Centers in Srebrenica, und er fügt hinzu: „Wir sind mit dem Risiko neuer politischer Gewalt konfrontiert.“ Suljagic hat recht, die Gefahr neuer Gewalt wächst. Nicht nur in Bosnien.

Rechtsgerichtete Extremisten weltweit fühlen sich von den auf dem Balkan begangenen Taten beflügelt. Der Attentäter etwa, der 2019 in Neuseeland zwei Moscheen angriff und mehr als 50 Menschen tötete, spielte, während er seine Tat im Internet streamte, das serbisch-nationalistische Kampflied Karadžić, führe deine Serben" – eine Huldigung an Serbenführer Radovan Karadžić. Ihn hatte das UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien 2016 wegen der im Bosnienkrieg begangenen Verbrechen zu 40 Jahren Haft verurteilt. Karadzics und Mladics Verbrechen, die Gewalt gegen Muslime, fanden in dem Terrorakt von Christchurch eine traurige Fortsetzung.

Was folgt daraus?

Die Verharmlosung, die fehlende Aufarbeitung von Verbrechen ist nicht akzeptabel in einer Welt, die nicht in verstörender Barbarei verharren will. Weil die Barbarei in Bosnien nicht aufgearbeitet wurde, weil sie von nationalistischen Politikern bis heute glorifiziert und neuerlich gemainstreamt wird, weil alle drei ethnischen Lager ihre eigene reingewaschene Deutung des Krieges weitertragen, fand sukzessive eine Gewöhnung an Hass und Gewalt statt. Eine Gewöhnung an verbrecherische Taten, ihre Verklärung und Sakralisierung aber kommt einem Angriff auf ein universelles Wertesystem gleich, auf dem Zivilisation und Rechtstaatlichkeit fußen. Der einstige Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina, Prof. Christian Schwarz- Schilling, formulierte es in einer Rede im Jahr 2007 so: „Jene, die den Genozid leugnen, bewegen sich außerhalb der Norm der Zivilisation.“

Gedenkkultur: Srebrenica´s Lehre für Europa

In weiser Voraussicht sorgte Schwarz Schilling per Gesetz und unter Anwendung der Bonn-Power dafür, dass das Memorial in Srebrenica-Potocari und der Friedhof für die Opfer des Genozids dem bosnischen Staat unterstellt wurden - und nicht länger jenen Institutionen der RS zugeordnet sind, deren Vertreter die Verbrechen in Abrede stellen. Mit diesem Schritt setzte der Deutsche den Grundstein für eine unabhängige Erinnerungskultur, die frei von nationalistisch aufgeheizter Deutungshoheit und Ethnonationalismus wirken kann. Denn womöglich ist die Erinnerung an Srebrenica mitunter auch deswegen nicht so populär, da mit ihr das dominierende Narrativ durchbrochen wird, wonach das vermeintlich so friedliche, christliche „Abendland“ durch einen aggressiven Islam gefährdet ist. In Srebrenica war das Gegenteil der Fall.

Die Entscheidung Schwarz-Schillings wirkt jedenfalls bis heute nach. Sie ist als Auftrag an die Internationale Gemeinschaft zu verstehen, dieses kleine, entlegene Srebrenica mit seiner so bewegenden Geschichte nicht zu vergessen. Es ist ein Appell, die Deutung der grausamen Taten nicht den Geschichtsklitterern und Gewaltverherrlichern zu überlassen.                      

25 Jahre nach dem Völkermord erscheint es angebracht, diesen Appell neu zu formulieren: Die Erinnerung an Srebrenica muss wiederbelebt werden, sie sollte aus ihrem Schattendasein in den Mittelpunkt einer europäischen Erinnerungskultur gerückt werden. Schulklassen aus allen Ländern Europas sollten hier lernen, wohin nationalistischer Wahn führt. In Srebrenica geht es nicht nur um die Balkankriege, um die Vergangenheit - es geht um uns, um unsere Zukunft. Es geht um ein Europa, das beweisen muss, dass es bereit ist, Zivilisation und Menschenrechte gegen jene zu verteidigen, die diese Prinzipien mit Füßen treten.

Heinrich Böll, der große deutsche Literat und Mahner, der sich in seinem 1972 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Werk immer wieder gegen Krieg und Gewalt stellte, formuliert es so: „Worte können töten, und es ist (...) eine Gewissensfrage, ob man die Sprache in Bereiche entgleiten läßt, wo sie mörderisch wird.“


Hinweis: Dieser Artikel wurde zuerst am 11. Juli 2020 auf ZEIT online veröffentlicht. 

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Die Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlicht aus Anlass des 25 Jahrestages des Genozids eine internationale Lesung, die sich als Gegenstimme zu den Matrixen des Vergessens, der Leugnung und der Verharmlosung versteht, als Akt des Widerstands im Namen aller Opfer und Angehörigen, deren Stimmen immer leiser werden, da sie von einem nationalistischen, revisionistischen Kanon übertönt werden.