Am Ende der Ära Babiš? Tschechien zwischen Vergangenheit und Zukunft

Analyse

Viele Tschech*innen feierten am Wochenende den Sieg der Oppositionsparteien gegen den Großunternehmer und amtierenden Premierminister Andrej Babiš. Die neue Mitte-Rechts-Regierung muss jedoch aufpassen, nicht zum Status Quo ante zurückzukehren, der Babiš vor acht Jahren an die Macht half.

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Sitzungssaal des Abgeordnetenhauses des tschechischen Parlaments in Prag.

Tschechien kehre dem Modell Orbán den Rücken und in den Schoß der EU zurück, der Geist von Václav Havel wehe wieder durch die Straßen von Prag – so kommentierten viele einheimische und internationale Medien. Die parlamentarische Mehrheit gegen den Populisten, dessen Partei ANO oft kritisch als „politische Abteilung seines Konzerns“ bezeichnet wird, ist zweifellos ein Grund zum Feiern. Strukturen des Babiš-Konzerns können nicht weiter ungehindert in den Staat hineinwachsen, eine zumindest partielle Rückkehr zur Politik als Streit um Ideen sowie ein Ende der Scheindebatten scheint möglich. Liberale, linke und grüne Stimmen sind jedoch im neuen Parlament kaum vertreten und in Klima- und Genderfragen ist wenig Fortschritt zu erwarten. Die neue Mitte-Rechts-Regierung muss aufpassen, nicht zum Status Quo ante zurückzukehren, der Babiš vor acht Jahren an die Macht half.

Zittern bis zur Auszählung der letzten Stimmzettel – dann brach über Prag der Jubel aus. Mit 27,8 Prozent und einem hauchdünnen Abstand von etwa 30.000 Wählerstimmen lag das konservative Dreiparteien-Bündnis SPOLU vor der Babiš-Partei ANO (27,1 %). Deutlich abgeschlagen gegenüber früheren Umfragewerten, aber immerhin mit knappen 16 Prozent, folgte das liberale Bündnis der Piratenpartei mit den Bürgermeistern und Unabhängigen (PirStan). Die rechtspopulistische Freiheit und direkte Demokratie (SPD) blieb knapp unter 10 Prozent und somit unter den eigenen Erwartungen wie den Befürchtungen vieler anderer. Die Sozialdemokraten (ČSSD), die Kommunistische Partei (KSČM) sowie mehrere kleine Rechtsaußenparteien scheiterten an der 5-Prozent-Hürde. Das gleiche Schicksal traf auch die tschechischen Grünen (1 %). Was sind die wichtigsten Erkentnisse aus dieser spannenden Wahl und wie geht es weiter mit Tschechien?

Ein Sieg der Zivilgesellschaft - und des Wahlsystems

Korruptionsskandale und Interessenskonflikte verfolgen Babiš schon lange - den neuesten Enthüllungen der Pandora-Papers zufolge soll er den Kauf und Besitz von Luxusimmobilien in Frankreich in Steueroasen verschleiert haben: nach außen hin scheinen die Gründe für die Wahlniederlage seiner ANO-Partei offensichtlich. Zum vollständigen Bild gehört jedoch auch, dass Babišs Partei bei den Wählern im Vergleich zur letzten Parlamenswahl 2017 nur etwa zwei Prozent an Unterstützung verlor. Mehrere Kleinparteien, darunter potenzielle Koalitionspartner von Babiš, scheiterten zum Teil knapp an der 5-Prozent-Hürde. Ohne diese Tatsache hätten beide Anti-Babiš-Bündnisse kaum ihre bequeme Mehrheit erreicht und der Milliardär hätte mit Sicherheit versucht, selbst eine Koalition zu bilden.

Auch ohne die „Million Augenblicke für die Demokratie“ wäre der Sieg der Opposition schwergefallen. Diese zivilgesellschaftliche Bewegung setzte sich zum Ziel, die oligarchische Regierung von Andrej Babiš zu beenden und brachte in vergangenen Jahren Hunderttausende auf die Straßen von Prag. Noch entscheidender war vermutlich, dass sie auch ein regionales Netzwerk schuf und in kleineren Städten Leute ansprach und Kundgebungen organisierte. Ob die Bewegung viele Babiš-Wähler*innen umstimmen konnte, bleibt offen – es scheint ihr jedoch gelungen, seine Kritiker*innen zum Wählen zu mobilisieren. 5 Prozent mehr Menschen als vor 4 Jahren haben an den Wahlen teilgenommen – die höchste Wahlbeteiligung seit 1998. Einen Stimmengewinn brachte dies vor allem den Oppositionsbündnissen.

Ob und wie schnell diese Bündnisse nun eine Regierung bilden können, hängt jetzt von Staatspräsident Zeman ab. Dieser hat hat nun zwei Versuche frei, den Spitzenkandidaten der siegreichen Partei mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Zeman, der aus seiner Unterstützung für Babiš kein Geheimnis macht, kündigte bereits an, Bündnisse nicht als Parteien anzuerkennen und somit Andrej Babiš als Wahlsieger zu betrachten. Gleich am Tag nach der Wahl wurde der chronisch kranke Zeman allerdings ins Krankenhaus eingeliefert - über seinen aktuellen Zustand weiss man wenig. Obwohl Babiš schon seine Bereitschaft ankündigte, Zemans Auftrag zu folgen und mit dem SPOLU-Bündnis zu verhandeln, wird sein Versuch höchstwahrscheinlich am Desinteresse von SPOLU scheitern.

Von der Oligarchie zum wirtschaftsliberalen Konservatismus

Zwei Mehrparteienbündnisse sind zur Wahl angetreten, um Andrej Babiš zu stürzen: das eine konservativ, das andere eher liberal. Die jeweiligen Stimmenanteile von 28 respektive  16 Prozent der Stimmen verraten, dass die Tschechen sich eher für einen konservativen Weg aus der oligarchischen Babiš-Dominanz entschieden haben. Das siegreiche Bündnis SPOLU wird von den Bürgerdemokraten (ODS) und ihrem Vorsitzenden Petr Fiala geführt. Als angesehener Politikprofessor verleiht Fiala der Partei, die Václav Klaus ehemals gründete, ein neues, anständiges Gesicht. Die ODS ist trotzdem weiterhin die  Heimat vieler EU- und Klimaskeptiker mit einer ausgeprägten Nähe zur fossilen Industrie. Ebenfalls konservativ und wirtschaftsliberal, aber deutlich EU-freundlicher, ist der zweite Bündnispartner TOP09. Der Dritte im Bunde, die Christdemokraten (KDU-ČSL), profilieren sich ebenfalls konservativ – Parteivorsitzender Marian Jurečka kündigte zum Beispiel vor den Wahlen an, mit keiner Partei koalieren zu wollen, die sich für die Ehe für alle einsetze.

Während von SPOLU kaum progressive Impulse in Sachen Klimapolitik, Gendergerechtigkeit oder soziale Gerechtigkeit zu erwarten sind, setzten viele liberal denkende Wähler*innen ihre Hoffnungen auf das Bündnis der Piraten- und die Bürgermeisterpartei (PirStan). Obwohl sie noch vor wenigen Monaten in den Umfragen vorne lagen, erreichten die Parteien zusammen relativ magere 16 Prozent. Einen bitteren Verlust erlitt dabei die Piratenpartei: Auf der gemeinsamen Wahlliste mit dem Bündnispartner STAN gaben viele Wähler*innen mittels Präferenzstimmen den Bürgermeistern Vorrang. Obwohl die Piraten die stärkere der beiden Parteien waren, holten sie dadurch nur 4 der insgesamt 37 PirStan-Mandate.

Wie konnte es dazu kommen? Vor allem zwei Gründe sind Beobachter*innen zufolge ausschlaggebend gewesen: Zum Einen die heftige Desinformations- und Hetzkampagne von Andrej Babiš und einigen Medien, die die Piraten als Sinnbild des „moralisch degradierten“ und schlicht „verrückt gewordenen“ Westens stilisierte: Die Piraten seien drogensüchtig, von Brüssel aus gesteuert, sie wollten den Tschechen ihre Wochenendhäuser und Wohnungen zugunsten von Migranten wegnehmen. Diese Vorwürfe waren so absurd wie effektiv: nach einer Umfrage habe fast die Hälfte der Tschechen daran geglaubt. Zum Andern haben die Piraten durch das Bündnis mit den eher bürgerlichen Bürgermeistern ihr Image einer jungen, mutigen und aufmüpfigen Partei eingebüßt. Plötzlich wollten sie eine catch-all-Partei sein und schliffen ihre Kanten ab, um attraktiver für die Mitte zu werden – und vergrämten damit einige ihrer Kernwähler*innen, während sie kaum neue gewannen.

Für das Klima und für eine liberale, progressive Politik ist der Misserfolg der Piratenpartei eine schlechte Nachricht. Unter den fünf Parteien, die nun eine Regierung bilden wollen, waren sie ihre einzigen klaren Verfechter. Die zentristischen Bürgermeister werden klimapolitische Anliegen oder beispielsweise die Ehe für alle vielleicht nicht blockieren, aber wahrscheinlich auch nicht stark vorantreiben. Mit nur vier Abgeordneten können die Piraten wenig durchsetzen. In der Partei werden deshalb Rufe nach einem Rücktritt des Vorsitzenden Ivan Bartoš und sogar einem Rückzug in die Opposition laut.

Das Ende einer Ära

Zum ersten Mal seit ihrer Gründung 1921 zog die Kommunistische Partei (KSČM) nicht ins Abgeordnetenhaus ein. Ob ihr die Unterstützung der Minderheitsregierung von Babiš und den Sozialdemokraten, oder ihre Unfähigkeit, jüngere Wähler*innen anzusprechen, zum Verhängnis wurde - ihr Abgang ist für viele ein Symbol für einen nun vollendeten Wandel Tschechiens hin zu einer westlichen Demokratie. Es bleibt abzuwarten, ob dieses „Ende einer Ära“ ebenfalls das Ende eines Phänomens einläutet, das seit den 90er Jahren in Tschechien zu beobachten ist: häufig wird selbst anderswo üblichen sozialstaatlichen Maßnahmen, oder Regulierungen im Namen wichtiger Ziele wie Klimaschutz, sowie generell einer ideengestützten, progressiven Politik jede Legitimation entzogen, indem sie von Kritiker*innen gezielt als „Kommunismus“ oder „Neomarxismus“ diffamiert werden – in Tschechien weiterhin ein äußerst unattraktives Label. Statt die Herausforderungen von heute rational und entschieden anzugehen, werden so bewusst die Geister von gestern heraufbeschworen und instrumentalisiert. Nun sind die wenigen übriggebliebenen Altkommunisten weg – und schaffen vielleicht so den Raum dafür, sich von nun an mehr mit Problemen zu befassen, die mit der heutigen Realität Tschechiens zu tun haben und die man nicht so leicht auf „den Kommunismus“ schieben kann.

Die Sozialdemokratie, die für ihr gemeinsames Regieren mit Andrej Babiš, ihren Opportunismus und innere Uneinigkeit mit einem Ergebnis unter 5 Prozent abgestraft wurde, muss sich nun zunächst mit sich selbst beschäftigen und die Ursachen dieses Ergebnisses gründlich und ehrlich aufarbeiten. Es bleibt zu hoffen, dass sie damit Erfolg hat, denn die Rückkehr einer erneuerten demokratischen Linken auf die tschechische politische Bühne ist überaus wünschenswert und notwendig: Die tatsächlichen Interessen der real schlechter gestellten oder vom Abstieg bedrohten Menschen wird sonst niemand ehrlich vertreten, auch wenn Babišs ANO und die Rechtspopulisten vermutlich alles darauf setzen werden, sich mit populistischen Scheinargumenten als Verbündete dieser Menschen zu stilisieren.

Auch die tschechischen Grünen müssen nun darüber nachdenken, warum sie bei den Parlamenswahlen mehrmals in Folge nur etwa ein Prozent der tschechischen Wähler*innen überzeugen konnten. Diesmal mag einer der Hauptgründe darin zu suchen sein, dass junge, urbane und progressiv denkende Tschech*innen eher die Piratenpartei wählten, die den Grünen programmatisch am Nächsten steht und viel größere Erfolgschancen hatte. Der Aufstieg der Piraten zeigt andererseits, dass in Tschechien auch viel Potenzial für eine Partei wie die Grünen da ist: vorausgesetzt, sie finden eine Sprache, mit der sie Menschen außerhalb ihrer Kernwählerschaft ansprechen und es schaffen, breitere gesellschaftliche Allianzen zu schmieden. Klimaschutz steht in der Priorität politischer Themen in Tschechien noch etwas weiter hinten – daran kann sich aber in den nächsten vier Jahren noch einiges ändern.

Bloß kein „weiter so“

Zwei Tage nach der Wahl, noch bevor sich die beiden Parteienbündnisse am Verhandlungstisch treffen konnten, wendeten sich die Vertreter der Industrie bereits mit einem eigentümlichen  Appel an sie: Fahrt den „grünen Wahnsinn“ herunter! Die tschechische Wirtschaft sehe sich durch das EU-Gesetzespaket „Fit for 55“ bedroht, besonders fürchte sie das frühe Ende des Verbrennungsmotors. Die Arbeitgeber wünschten sich außerdem noch mehr „Flexibilität“ im Umgang mit ihren Arbeitnehmern.

Die neue Regierung muss der Versuchung widerstehen, derartigen Rufen aus der Wirtschaft leichtfertig zu folgen. Sie sollte Tschechien aus dem oligarchischen Klammergriff der letzten Jahre befreien und in eine nachhaltige und sozial gerechtere Zukunft führen, nicht zurück in die mit der strengen, vermeintlichen Hand des Marktes durchregierten, von Kohlegeruch durchdrungene Vergangenheit. Sollte die neue Regierung wenig Rücksicht auf das Klima und soziale Ungleichheiten nehmen, wird die Zivilgesellschaft sie an diese Themen erinnern – wenn nötig, auch unbequem und lautstark. Nicht nur deshalb würde die Regierung gut daran tun, ihr zuzuhören: nicht zufällig geschah es gerade in einer Phase der Verdrossenheit nach einer Serie von Mitte-Rechts-Regierungen, dass Andrej Babišs Partei 2013 aus dem Stand über 18 % der Stimmen holte. Spätestens in vier Jahren könnte er sein Comeback versuchen – oder auch schon 2023 bei der Präsidentschaftswahl.