Quellen des „Querdenkertums“. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg 

Zusammenfassung

Zusammenfassung der Studie Quellen des „Querdenkertums“. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg

Prof. Dr. Oliver Nachtwey und Dr. Nadine Frei

Diese Studie entstand im Rahmen eines Forschungsauftrags der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg.

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Die vorliegende Studie hat sich an zwei forschungsleitenden Fragen orientiert:

a) Welche besonderen Merkmale weist die „Querdenken“-Bewegung in Baden-Württemberg auf?

b) Warum ist die „Querdenken“-Bewegung in Baden-Württemberg so stark verwurzelt?

Für unsere Forschung wurde ein explorativer Mixed-Methods-Ansatz gewählt. Mittels Erhebungen und Auswertungen von qualitativen Interviews mit Corona-Kritiker:innen, Analysen von Feldexpert:innen, ethnographischen Beobachtungen und einer Sekundärauswertung unserer quantitativen Umfrage in Telegram-Gruppen wurden Rückschlüsse und tentative Analysen über die „Querdenken“-Bewegung in der politischen Landkarte Baden-Württembergs erarbeitet.

Participants take part in a demonstration against Coronavirus restrictions in Stuttgart, Germany on May 9, 2020. Similar protests and actions are being held worldwide with people asking for freedom of movement and religious ceremonies

1. Die Analyse qualitativer Interviews mit Personen, die an "Querdenken"-Protesten teilgenommen oder diese sogar organisiert haben, zeigt eine Homologie der Kritik und Beweggründe bei den Interviewten auf. Bei der Kritik an den Corona-Maßnahmen handelt es sich um eine Kritik, die nicht primär auf eine bestimmte Sache – d.h. einzelne Pandemiemaßnahmen – zielt, sondern bei der der Anspruch im Vordergrund steht, als Kritik verstanden zu werden. In der Corona-Protestbewegung fungiert Kritik als Eigenwert. Die Rekonstruktion der Kritik, die sich gegen die coronabedingten Maßnahmen und die dafür Verantwortlichen richtet, zeigt ferner ein Charakteristikum der Corona-Proteste auf: Es handelt sich um eine Komplementarität von verschwörungstheoretischen und esoterischen Überzeugungen. Diese conspirituality ist eine Kritik, die sich als oppositionelle Kritik zum Mainstream zeichnet. Die Befragten inszenieren sich als Eingeweihte, fast sogar als Erwählte, die auch gegen Widerstand, Stigmatisierung und Repression an ihrer Expertise festhalten. Als Eingeweihte glauben sie, über ein höheres Wissen, über die Wahrheit der wirklichen Beweggründe der staatlichen Maßnahmen zu verfügen. Eigenes Recherchieren, kritisches Hinterfragen und Aufspüren von Quellen sind zentrale Motive der "Querdenken"-Proteste. Eine weitere Homologie zeigt sich in den Beweggründen: Die Befragten verfügen über ein libertäres Freiheitsverständnis, in dem Individualität, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung nahezu absolut gesetzt werden. Ihr Widerstand richtet sich gegen institutionelle Regeln, die ihre individuelle Freiheit beschränken – nur Regeln, die sie selbst setzen, erachten sie als legitim. Das libertäre Freiheitsverständnis und die Betonung von Individualität stehen daher nicht im Widerspruch zum Prozess der Vergemeinschaftung, die in religiösen, anthroposophischen oder politischen Milieus, und nicht zuletzt im "Querdenken"-Milieu, ihren Ausdruck findet.

2. Basierend auf empirischen Voruntersuchungen, welche vom aktuellen Stand der Forschung untermauert werden, haben wir vier mögliche Ursprungsmilieus untersucht:

1. das Alternativmilieu,
2. das anthroposophische Milieu,
3. das christlich-evangelikale Milieu und
4. das bürgerliche Protestmilieu.

Bei der Untersuchung eines Zusammenhangs mit dem christlich-evangelikalen Milieu zeichnete sich frühzeitig ab, dass ein eher schwacher Zusammenhang, etwa durch personelle Überschneidungen, besteht. Der Zusammenhang mit dem bürgerlichen Protestmilieu, vor allem dem politischen Kernmilieu von Stuttgart 21, ist noch geringer. Beide Milieus haben oder hatten einen hohen Institutionalisierungsgrad in Baden-Württemberg. Das christlich-evangelikale Milieu, das eine große Ausbreitung in Baden-Württemberg aufweist, zeichnet sich durch eine gewisse Staatsskepsis, Individualismus, strenge Bibelhermeneutik und sich daraus ergebende eigene Expertise aus. Mentalitätsstrukturen, die eine starke Fundierung im Pietismus gehabt hatten und haben, finden sich in den Corona-Protesten wieder. Baden-Württemberg besitzt eine lang zurückreichende Protestgeschichte, in der durch kulturelle Diffusion eine Protestkultur entstanden ist, die vor allem durch bürgerliche Partizipations- und Protestformen bei Großprojekten und der Friedensbewegung eingeübt wurde. Auf diese Protestformen nehmen die "Querdenken"-Proteste direkten Bezug, sei es durch Anleihen der Form einer Menschenkette, der Art der Kritik oder der Selbstdarstellung der Aktivist:innen als Expert:innen. Die Corona-Proteste können also von dieser Protestkultur profitieren, entstammen aber nicht von vorherigen Protesten.

3. Unsere Ergebnisse führen zur These, dass vor allem die ersten beiden Milieus zentrale, wenngleich nicht die ausschließlichen, Quellen von "Querdenken" in Baden-Württemberg darstellen. Die beiden Milieus weisen strukturelle und ideelle Gemeinsamkeiten und Überschneidungen auf. Unter anderem Ganzheitlichkeit, Individualität, Selbstbestimmung und Naturverbundenheit stellen geteilte Bezugspunkte des Alternativmilieus und des anthroposophischen Milieus dar. Dabei sind es vor allem die Themenbereiche Gesundheit, Körper und Impfungen, die zur Mobilisierung vieler Protestteilnehmer:innen aus diesen Milieus geführt haben. Trotz der großen Heterogenität der Corona-Protestbewegung sehen wir auf der Basis unserer Empirie eine ihrer Quellen im mittlerweile modernisierten und in seiner Kohärenz verschwundenen Alternativmilieu. Es führt aber kein direkter Weg vom (ehemaligen) linksalternativen Milieu zum „Querdenkertum“ im 21. Jahrhundert. Es handelt sich gerade um die Transformation dieses Milieus, in der von den linken Politikformen und linken Werten wie Solidarität und Gleichheit im Grunde nichts mehr übrig ist. Geblieben sind vor allem Lebensstile der Körperpolitik und der Selbstverwirklichung, die Idee der Ganzheitlichkeit, häufig (aber nicht immer) eine spirituelle und vor allem anthroposophische Überzeugung und ein libertäres Freiheitsverständnis. Durch diese Transformation gewann dieses Milieu noch mal an Anziehungskraft über die eigenen Milieugrenzen hinaus.

4. Unser Online-Survey unter Mitgliedern von Telegram-Gruppen der Protestbewegung hat gezeigt, dass die Bewegung durch eine tiefe Entfremdung von Kerninstitutionen der liberalen Demokratie gekennzeichnet ist (Nachtwey et al. 2020). Der parlamentarischen Politik und den Parteien, der Wissenschaft und den Medien – allen öffentlichen Institutionen schlägt großes Misstrauen entgegen. Die von uns analysierten Wählerwanderungen legen die Grunddynamik der "Querdenken"-Bewegung offen, die sich auch für Baden-Württemberg zeigt: Es ist eine Bewegung die teilweise eher von links kommt, sich aber nach rechts bewegt. Viele Studienteilnehmer:innen haben angegeben, bei der Bundestagswahl 2017 Bündnis 90/Die Grünen gewählt zu haben. Ausgehend von diesem Befund erfolgte eine  Auseindersetzung mit dem Enstehungskontext der Grünen, bei dem das Alternativmilieu und anthroposophische Einflüsse eine Rolle gespielt haben. Unsere Untersuchung zeigt einen starken Entfremdungsprozess vom ehemaligen und nunmehr modernisierten Alternativmlieu und dem anthroposophischen Milieu zur Partei Bündnis 90/Die Grünen. Die Partei hatte jüngst zwar noch einen Formelkompromiss bezüglich alternativer Heilmethoden geschlossen, aber sich im Kern von einer Traditionslinie getrennt, die in ihrer Entstehungsphase von Bedeutung war. Viele Menschen, die eine starke affektive Bindung an diese Traditionen haben, fühlen sich bei den Grünen nun nicht mehr zu Hause. Dazu kommt, dass die Grünen in den letzten Jahren einen Ansatz fortgesetzt und verstärkt haben, der bereits zuvor weit vorangeschritten war: den Anspruch Volks- und damit auch Regierungspartei zu sein. Die sich daraus ergebende Integration in den Staat, die politi-sche Führung staatlicher Institutionen und der damit endgültig vollzogene Abschied von der „Anti-Parteien-Partei“ dürften ihr Übriges dazu beigetragen haben, dass die Grünen für eher staatskritische Gruppen nicht mehr die Partei der Wahl sind. Es gibt keinen vorgezeichneten Weg der politischen Neuorientierung für die Personen – viele bewegen sich ins politische Neuland. Die Partei Die Linke kommt für diese Kreise nicht in Frage, da sie auch zum „Establishment“ gehört. Viele gehen in die Wahlenthaltung, experimentieren mit neuen politischen Formationen wie der Partei dieBasis oder wählen die AfD. Eine offene Frage ist, ob sich hier eine neue, im Grunde wenig wahrscheinliche, Assoziation auf Dauer einstellt – ob die ehemaligen linksalternativen Milieus eine politische Transformation durchlaufen und zur Rechten überlaufen.

5. Unsere Studie bestärkt die Annahme, dass die "Querdenken"-Proteste in Baden-Württemberg grundlegende Unterschiede zu den Corona-Protesten in Ostdeutschland aufweisen. Bei den Studienteilnehmer:innen ist der Anteil von AfD-Wähler:innen in Ostdeutschland deutlich höher als in Baden-Württemberg. Vice versa ist der Anteil von ursprünglichen Grünen- und Linke-Wähler:innen in Baden-Württemberg doppelt so hoch wie in Ostdeutschland. Zwar konnten sich die "Querdenken"-Proteste auch in Ostdeutschland, vor allem Sachsen, etablieren, doch sind diese stärker von der extremen Rechten geprägt und tragen deutlich weniger esoterische und anthroposophische Züge. Unsere Analyse zu den "Querdenken"-Protesten in Baden-Württemberg zeigt wichtige Unterschiede zu den Protesten in Ostdeutschland auf. Letztere entstanden später als die Proteste in Westdeutschland und Berlin. Die AfD hat sich aus unserer Sicht ab einem bestimmten Zeitpunkt strategisch auf die Proteste bezogen und versucht sich neue Milieus zu erschließen, indem sie sich als politisches Sprachrohr gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung inszeniert hat. Vor allem in Ostdeutschland konnte sie die mitunter starke Entfremdung von der Bundesregierung und vom politischen System erfolgreich mit einer Impfskepsis verbinden, die hier aus anderen soziokulturellen Quellen erfolgt: der Impflicht in der ehemaligen DDR. Somit hat sich aus unterschiedlichen sozio-kulturellen Quellen in Baden-Württemberg und den neuen Bundesländern eine ähnliche Dissidenz gegenüber der Pandemie-Politik herausgebildet.