Ukraine: Kein Verlass auf Deutschland?

Kommentar

Die Ukraine steht vor einer Herausforderung, die ihre Existenz bedrohen könnte. Sie setzt auf Verhandlungen, Sanktionen und ihre Armee und braucht die Solidarität und Hilfe der europäischen Demokratien.

Es vergeht kaum ein Tag ohne neue, für die Ukraine und ganz Europa bedrohliche Nachrichten. Die Zahl der an der Grenze zur Ukraine aufmarschierten russischen Truppen ist nach letzten Angaben auf bis zu 120.000 Soldaten angewachsen. Pioniereinheiten zum Ponton-Brückenbau sollen darunter sein. Russische Einheiten ziehen in Belarus ins wochenlange Manöver. In den russischen sozialen Netzwerken berichten Familienangehörige aus fernen Landesteilen, dass ihre Verwandten, Soldaten der russischen Armee, nach Westen abkommandiert worden seien – auf unbestimmte Zeit. Ausländische Botschaften in Kiew evakuieren einen Teil ihres Personals. Ukrainische Medien raten zu häuslichen Wasservorräten und für den Notfall gefüllten Speisekammern. Sie verbreiten Ratgeber darüber, welche Medikamente in der Erste-Hilfe-Apotheke nicht fehlen dürften und wie man Kindern vom Krieg erzählen solle.

Erstaunliche Gelassenheit in Kiew

Wenn die russische Drohkulisse entlang der Grenze Panik in die Ukraine tragen sollte, so ist dieser Plan bisher nicht aufgegangen. Das Leben in Kiew geht auf den ersten Blick in erstaunlicher Gelassenheit weiter. „Wir leben seit sieben Jahren mit solcher Bedrohung“, sagen viele Menschen, „wir haben uns daran gewöhnt.“ Aber im privaten Gespräch wird die Anspannung oft sichtbar: „Wird es Krieg geben?“, lautet die meist leise ausgesprochene Frage. Manche derer, die bereits 2014 vor dem Krieg aus dem Osten, den Gebieten von Donezk und Lugansk, nach Kiew geflohen sind, wundern sich über die Ruhe der Hauptstädter/innen. „Wir wissen, dass der Krieg möglich ist“, sagen sie und halten sicherheitshalber den gepackten Fluchtkoffer mit den wichtigsten Dokumenten und Geld, mit Messer, Taschenlampe und Thermounterwäsche bereit.

„Wir wissen, dass der Krieg möglich ist“

Die Vorstellung einer russischen Invasion, eines Angriffs auf die Ukraine und ihre Hauptstadt Kiew erscheint, als sei sie einem irren Phantasiegebilde entsprungen. Aber sie gewinnt an Konturen, je länger sich der russische Truppenaufmarsch an der Grenze festsetzt und die Motive und Ziele Moskaus im Dunkeln bleiben. Dabei stünden die Einkreisungsängste, die Moskau oft für sich beschwört, gerade der Ukraine zu: Im Norden liegt an einer gut 1.000 Kilometer langen Grenze Belarus, dessen autoritärer Herrscher Alexander Lukaschenko sich in einer Kehrtwendung mittlerweile ganz Moskau verschrieben hat. Die gemeinsame Grenze im Osten zu Russland misst mehr als 2.000 Kilometer auf dem Land, im Asowschen und Schwarzen Meer. Im Süden liegt die von Russland annektierte Krim mit stationierten russischen Truppen, und im Südwesten stehen russische Truppen im von Moldau abtrünnigen Transnistrien.

Ernüchternde Erkenntnisse

Die ukrainische Führung setzt vorerst auf drei Pfeiler der Kriseneindämmung: Diplomatie und Verhandlungen, Sanktionen und Wehrhaftigkeit. Wenn sie die Kriegsgefahr verringern und die Souveränität der Ukraine verteidigen, werden auch russisch-amerikanische Konsultationen begrüßt. Aber sonst möchte die Ukraine am Verhandlungstisch vertreten sein, wenn es um ihr Schicksal geht. Als überlebenswichtig gelten Sanktionen und ähnliche Maßnahmen, die Russland seine Grenzen aufzeigen oder große Probleme bei einem aggressiven Handeln ankündigen. Vor allem aber hat sich in den vergangenen Jahren die ernüchternde Erkenntnis durchgesetzt, dass alle Hoffnungen letztlich nur auf den eigenen Fähigkeiten ruhen können. Deshalb nimmt die reformierte und modernisierte Armee eine zentrale Rolle ein in einem Land, das sich im Osten, an der Frontlinie zu den besetzten Gebieten, seit fast sieben Jahren im permanenten Kriegszustand befindet. Als beste Abschreckung gilt die Fähigkeit, der russischen Armee bei einem Angriff auf die Ukraine größtmöglichen Schaden zufügen zu können.

Deshalb ist die Bereitschaft, Waffen an Kiew zu liefern, aus ukrainischer Sicht zu einem Grundtest der Solidarität durch befreundete Länder geworden. Deutschlands Weigerung hat sich in den vergangenen Monaten zu einem Kernproblem der deutsch-ukrainischen Beziehungen entwickelt. Verweise auf die bevorstehende Lieferung eines Feldlazaretts oder von 5000 Soldatenhelmen hat zuletzt vor allem Häme hervorgerufen. Dass gerade aufgrund der Geschichte Deutschlands, das vor 82 Jahren einen verbrecherischen Krieg in die Welt getragen hat, eine besondere Verantwortung bei Waffenexporten in mögliche Krisengebiete bestehe, überzeugt nicht in der Ukraine. Die häufig gestellte Frage lautet: Verpflichtet nicht gerade die geschichtliche Verantwortung Deutschlands dazu, der Ukraine, die im Zweiten Weltkrieg besonders unter der brutalen deutschen Besatzung litt, heute bei der Verteidigung gegen einen Aggressor von außen beizustehen?

Das Vertrauen in Deutschland bröckelt

Die Krise in den deutsch-ukrainischen Beziehungen hat ein bedenkliches Ausmaß erreicht und droht, wie im Zeitraffer ein Vertrauen zu zerrütten, das zuvor über Jahre der engen Zusammenarbeit hinweg aufgebaut wurde. Die Frage der Waffenlieferungen hätte dabei nicht eine solch fatale Bedeutung erhalten, wenn nicht zugleich viele andere Signale aus Deutschland Irritationen hervorriefen. Allen voran steht der Bau des zweiten Gaspipelinestrangs North Stream II, der den russischen Gastransit durch die Ukraine auf ein Minimum reduziert, sowohl Einnahmen als auch Einfluss kostet und noch dazu in Deutschland oft als rein „wirtschaftliches Projekt“ verbrämt wird. Das hört sich für Kiew naiv, wenn nicht gar zynisch an. Hinzu kamen zuletzt bizarr-dissonante Töne wie die russlandfreundlichen Aussagen des deutschen Marinechefs, der aussprach, was vermutlich nicht Wenige in Deutschland  denken. Der entscheidende Faktor in der deutschen Ukrainepolitik, so die ukrainische Befürchtung, ist und bleibt Russland. Irrlichternde Diskussionen über mögliche oder unzulässige Sanktionen führen zusätzlich zum Eindruck, dass die Angst in Deutschland, es sich mit Russland zu verderben, alle Entscheidungen beeinflussen oder bestimmen werde. Auf Deutschland sei, so der Eindruck, kein Verlass.

Doch Solidarität mit der Ukraine kann auch ohne Waffenlieferungen bezeugt werden. Dies beginnt bereits mit der Perspektive und Wortwahl: Es gibt keine Ukrainekrise, sondern eine Russlandkrise. Die Ukraine stellt nicht das Problem dar und darf nicht zum Opfer in einer Krise werden, die das Nachbarland bewusst schürt. Auch geht es nicht um einen möglichen zukünftigen Krieg, denn dieser ist bereits nach der Annexion der Krim 2014 ins Land getragen worden. Die jetzige Drohkulisse hat zudem das Schicksal der Krim völlig aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Umso wichtiger ist es, die Annexion der Krim weiterhin zum Thema zu machen.

Recht auf Selbstbestimmung

Im internationalen politischen Rahmen bleibt es bedeutsam, das Recht der Ukraine auf eine eigene staatliche Existenz, das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf eine freie Wahl der Bündnispartner zu verteidigen. Die Unverletzlichkeit ukrainischer Grenzen hat auch Russland 1994 im Budapester Memorandum anerkannt. Das Spiel mit der Sicherheit eines Nachbarlandes ist die Rückkehr zu einer Großmachtpolitik mit Einfluss- und Kontrollzonen. Sie würde das gemeinsame europäische Verständnis zerstören, das dem Kontinent nach 1945 gegenseitige Verständigung, Frieden und Wohlstand gebracht hat. Entsprechend klar muss sein, dass ein äußerer Aggressor in jedem Fall mit weitreichenden negativen Folgen seines Handelns zu rechnen hat. Eine missverständliche Politik einzelner Zugeständnisse schlägt dagegen fehl, wenn es Russland in Wirklichkeit um eine Schwächung der Ukraine, um eine Verschiebung des europäischen Sicherheitssystems und eine globale Systemkonkurrenz mit der Gemeinschaft der freien, liberalen Demokratien geht.

Mehrheit wünscht weitere Annäherung an Europa

Eine Mehrheit der Menschen in der Ukraine wünscht sich eine weitere Annäherung an das westliche Europa. Es ist eine vielfach traumatisierte Gesellschaft nach Bürgerkrieg, Kollektivierung, Hungersnot, Stalinscher Repression, einem verheerenden Krieg, totalitärer Leidenszeit im vergangenen Jahrhundert und einer Aggression von außen im vergangenen Jahrzehnt. Der Prozess einer verspäteten Nationenbildung schreitet voran, aber er benötigt Zeit. Die totalitäre Vergangenheit prägt noch teilweise die Politik, in der oft persönliche Absprachen in Hinterzimmern ausschlaggebend sind. Aber zugleich ist die Ukraine eine der wenigen postsowjetischen Republiken, in denen ein Verständnis für Pluralismus besteht und das Parlament ein reales Machtzentrum darstellt. Den Präsidenten der Ukraine, die dies wollten, ist es nie gelungen, die Allmacht im Staat an sich zu reißen. Dem stehen starke Oppositionsgruppen und lebendige und selbstbewusste Kräfte aus der Gesellschaft im Wege.

In einer Meinungsumfrage gab zuletzt gut die Hälfte aller Befragten an, bei einer Invasion durch russische Truppen auch mit Waffen gegen die Angreifer vorgehen zu wollen. Dies zeigt, dass viele Ukrainer und Ukrainerinnen sich sicher sind, dass sie viel zu verlieren haben.