Nach den Wahlen in Italien – was nun?

Analyse

Italien hat gewählt. Die Partei Fratelli d'Italia von Giorgia Meloni erhielt rund 26 Prozent der Stimmen und wird damit stärkste Kraft im Parlament. Wie geht es nun weiter? Eine Analyse.

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Das Parlamentsgebäude in Rom.

Wählen – nein danke

Die Aufrufe von Rechts wie von Links, doch bitte zu den Wahllokalen zu gehen, hatten keinen Erfolg. Nicht einmal 64% der italienischen Wahlberechtigten sind zu den Urnen gegangen, ein historischer Tiefpunkt. 7 Prozentpunkte weniger als bei den letzten Parlamentswahlen 2018. Und das war damals schon die geringste Beteiligungsquote in der italienischen Geschichte. Es wäre daran zu erinnern, dass bei den ersten Wahlen der neuen Republik 1948 die Wahlbeteiligung bei 91% gelegen hatte, und da gab es kein Fernsehen und schon gar nicht Internet, und 13% der Italiener*innen waren Analphabeten. Umfragen während des Wahlkampfs waren praktisch unbekannt. Traditionell war Italien bekannt für besonders hohe Wahlbeteiligung im Verhältnis zu anderen westlichen Demokratien. Im Vergleich zu Deutschland: 76,6% haben an den letzten Bundestagswahlen eine Stimme abgegeben.

Eine erste Analyse bezeichnet hauptsächlich drei Gründe für diese geringe Motivation zur Wahl zu gehen[1]: erstens, Menschen unter oder am Rand der Armutsgrenze, sozial marginalisiert, sehen sich durch niemanden repräsentiert und haben das Vertrauen auf Verbesserung ihrer Situation verloren. Ihre Zahl ist während der Covid-19-Krise erheblich angestiegen, vor allem in Süditalien, wo in einigen Gebieten weniger als die Hälfte der Berechtigten zur Wahl gegangen sind. Zweitens, Resignation, die zur Wahlenthaltung führt, da laut der Umfragen die eigene Partei ohnehin verlieren oder gewinnen wird und die eigene Stimme daran nichts mehr ändert. Dier Masse der während des Wahlkampfs seit Ende Juli fast täglich veröffentlichen Umfragedaten hat diese Haltung noch verstärkt. Drittens, die zunehmende Distanzierung von der Politik überhaupt seitens vieler Bürger*innen, die enttäuscht sind und die immer weniger ihre individuelle Identität von der Politik reflektiert sehen.

Ein weiterer Grund ist die Krise der Parteien, die in den letzten Jahren ständig Namen, Symbole und Leitfiguren gewechselt und ihre Verankerung an der „Basis“ weitgehend verloren haben.

Dazu kommt die „unfreiwillige“ Wahlenthaltung von Personen ohne oder mit eingeschränkter Mobilität (4,2 Millionen bei den über 65-Jährigen, davon 2,8 Millionen mit großer Bewegungsbehinderung). Weitere 4,9 Millionen Wahlberechtigte können wegen auswärtiger Arbeit oder Studium den Wohnort und damit die Wahllokale nicht erreichen. Briefwahlen sind im System nicht vorgesehen, außer für im Ausland ansässige Italiener*innen. Beide Faktoren spielen zunehmend eine Rolle, auf der einen Seite wegen der in Italien besonders starken Überalterung der Bevölkerung, auf der anderen wegen der steigenden Tendenz zu geographischer Trennung zwischen Arbeits- und Wohnsitz.

Demokratische Legitimation der „Rechts-Koalition“?

Die Koalition von „Fratelli d´Italia“ (FdI), „Lega“ und „Forza Italia“ hat eine klare absolute Mehrheit der Sitze in beiden Kammern des Parlaments errungen. Aber sie wurde von nur 43% der Wahlberechtigten gewählt (FdI 26%, „Lega“ 8,8%, „Forza Italia“ 8,1%). Etwa 52% haben hingegen den Parteien im Links-Mitte-Feld, die jetzt in der Opposition stehen, den Vorzug gegeben. Die Erklärung für dieses Paradox liegt im Wahlsystem, einer Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht, das keine Überhangmandate wie etwa in Deutschland kennt. Die Zahl der Parlamentarier (400 in der Deputiertenkammer, 200 im Senat) ist vom Gesetz von vornherein festgelegt. Ausschlaggebend für das Ergebnis war die Komponente des Mehrheitswahlrechts, etwa ein Drittel der Sitze, bei der ein einziger Parlamentarier in jedem Wahlbezirk per Direktwahl ins Parlament kommt. Starke Koalitionen wie die der Rechten haben dabei einen klaren Vorteil. Die völlige Zersplitterung bei Links-Mitte hingegen hat dazu geführt, dass diese Parteien nur sehr wenige Sitze über die Direktwahl bekommen haben. In die Deputiertenkammer hat das Rechts-Bündnis 121 direkt gewählte Abgeordnete entsandt, die „Partito Democratico“ (PD) als zweitstärkste Partei (19%), zusammen mit ihren kleinen Koalitionspartnern „Europa Verde“ („Europa Grün“) und „Sinistra Italiana“ („Italienische Linke“) hingegen nur 12 Sitze.

Es bleibt also festzuhalten, dass eine Mehrheit der zur Wahl gegangenen Italiener*innen nicht dem RechtsBündnis, das jetzt die Regierung stellen wird, das Vertrauen ausgesprochen hat.

Bei den Jungwähler*innen (18-34 Jahre) ist die Diskrepanz noch krasser. Bei ihnen ist die 5-Sterne-Bewegung mit 19% als stärkste Partei hervorgegangen, gefolgt von PD und FdI, mit jeweils 17%. Die Zustimmung zur Rechts-Koalition ist in dieser Altersgruppe unter 32%. Aufgrund der „umgekehrten Alterspyramide“ (fast ein Drittel der Bevölkerung ist über 60 alt) haben die Stimmen der Jungwähler gleichwohl keine ausschlaggebende Rolle gespielt. Bemerkenswert ist, dass die Grünen und Linken, die sich gemeinsam aufgestellt haben, bei den Jungwählern auf 6% der Stimmen kommen, gegenüber 3,3 % bei der Gesamtwählerschaft.

Der schwierige Start in die Opposition

Unter den Verlierern der Wahl – PD, „Lega“, „Forza Italia“- ist der Stimmenverlust bei der PD, im Verhältnis zu den letzten Wahlen und zu den Wahlprognosen, besonders schmerzlich. Noch im August gab es, laut Umfragen, eine berechtigte Hoffnung als stärkste Partei aus den Wahlen hervorzugehen, während am Ende, mit 19,1%, der Abstand zur FdI fast 7 Prozentpunkte beträgt. Die Verantwortung dafür wird in erster Linie der Unfähigkeit der Partito Democratico, eine breitere Koalition aufzustellen, gegeben, und damit auch dem Generalsekretär Enrico Letta. Letta hat sofort nach der Wahl angekündigt, nicht erneut für den Spitzenposten zu kandidieren. Die Opposition wird also vorerst mit einer angeschlagenen Führerfigur auftreten. Der für das Frühjahr 2023 anberaumte Parteikongress soll eine grundlegende Neubestimmung anvisieren. Als Kandidaten*innen für die Nachfolge Lettas sind sowohl Elly Schlein, Vize-Präsidentin der Region Emilia-Romagna, dem linken und stark ökologischen Flügel der Partei zuzurechnen, als auch Stefano Bonaccini, Präsident derselben Region, im Gespräch. Die relativ reiche, traditionell „rote“ Region Mittelitaliens stellt das einzige Gebiet dar, in dem die PD als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgegangen ist. An der Regierung in Bologna ist die „5-Sterne-Bewegung“ als Koalitionspartner beteiligt.

Die „5-Sterne-Bewegung“ unter dem früheren zweimaligen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte hat ein überraschend gutes Wahlergebnis von 15,4% erzielt, hauptsächlich dank ihrer Wähler*innen im Süden des Landes und unter den Jungwähler*innen. Ein Gutteil des Zuwachses, gegenüber den letzten Regional-und Kommunalwahlen, stammt von vormaligen Wählern*innen der PD. Conte und andere Sprecher der Bewegung haben in diesen Tagen durchblicken lassen, dass sie zwar nicht mit Letta aber mit einer anderweitig geführten PD zusammengehen könnten. Das würde der zersplitterten Opposition eine stärkere Stimme im Parlament verschaffen und die Chancen bei den künftigen Regional- und Kommunalwahlen verbessern. Die PD regiert in mehreren Regionen und Städten erfolgreich zusammen mit den „5 Sternen“. Für viele Beobachter war es ein Fehler, dass die PD nach dem Rücktritt der Draghi-Regierung im Juli die Tür für ein Zusammengehen mit der Bewegung zugeschlagen hat. Die Programme der beiden Formationen, vor allem in den Bereichen Umwelt, erneuerbare Energien, Umorientierung der Industrie, Bürgerrechte, Migration und Asyl, weisen viele Schnittpunkte auf. Die „5-Sterne-Bewegung“ wird, gerade bei den Jüngeren, als „moderner“, offener, dynamischer angesehen als die traditionsbelasteten Sozialdemokraten der PD.

Eine dritte Stimme der Opposition ist das erst im Juli entstandene Bündnis zwischen „Azione“ von Carlo Calenda und „ItaliaViva“ von Matteo Renzi, die zusammen 7,8% der Stimmen bekommen haben, nur knapp unterhalb von Berlusconi „Forza Italia“ (8,1%). Das von Calenda angestrebte Ziel eines zweistelligen Ergebnisses haben sie allerdings deutlich verfehlt. Das Bündnis will sich als die eigentliche „Mitte“ oder „Terzo Polo“ (dritter Pol) verstehen. Seine Verantwortlichen Calenda und Renzi, beide von der PD stammend, Renzi sogar als der von dieser Partei aufgestellte Ministerpräsident, haben beide ein angespanntes, wenn nicht gar feindseliges Verhältnis zu ihrer Mutterpartei und zu Letta im Besonderen. Sie könnten bei einigen Gesetzesvorschlägen der Rechten, insbesondere auch bei der von Meloni angestrebten Verfassungsänderung zugunsten einer Präsidialrepublik, mit der Mehrheit stimmen. Eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, die eine Verfassungsänderung ohne ein Referendum ermöglichen würde, wurde verfehlt und wird auch mit den Stimmen der „Mitte“ nicht erreicht.

Die Grünen in Italien

Die Koalitionspartner der PD, „Europa Verde“ und „Sinistra Italiana“, die sich für die Wahlen gemeinsam aufgestellt hatten, erzielten mit 3,6% der Stimmen einen relativen Erfolg. Sie haben insgesamt 14 Sitze. Für die italienischen Grünen ist es nach 1989 das zweitbeste Ergebnis. Damals hatte die Vorgängerpartei „Föderation der Grünen Listen“ 3,8% bei den Europawahlen geholt und drei Abgeordnete ins europäische Parlament geschickt, unter ihnen der international bekannteste Exponent der Bewegung Alexander Langer. Es folgte eine sehr wechselhafte Geschichte mit ihrem Tiefpunkt von 0,6 Prozent bei den Parlamentswahlen 2018.

Wie das jetzige Wahlergebnis und vor allem die relativ starke Zustimmung seitens der Jungwähler*innen zeigen, könnte es für die Grünen in Italien wieder aufwärts gehen. Angesichts der „Besetzung“ der ökologischen Themen durch die PD und insbesondere die „5-Sterne“ erscheint allerdings eine Profilierung der Grünen schwierig, solange die eher monothematische Ausrichtung der Partei beibehalten wird.

Die neue Regierung: rechts ja, aber nicht so deutlich

Die zukünftige Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat sich noch in der Wahlnacht bemüht, ihre Anhängerschaft von Exzessen des Jubels abzuhalten. Keine Aufmärsche, kein Kanonendonner. Niemand soll verschreckt werden, schon gar nicht im Ausland. „Die Lage ist ernst. Inflation, Krise der Energieversorgung, die sich abzeichnende Rezession, der gewaltige Berg der Staatsschulden, der Krieg in der Ukraine – da müssen wir alle zusammenhalten.“ Die Glückwunschadressen von Le Pen, Orbán, Abascal sollen nicht so laut verkündet werden. Einige Pressestimmen im Ausland[2] warnen vor übertriebener Furcht, die neue Rechtsregierung in Italien könne die europäische Außen- und Wirtschaftspolitik verändern.

Im Block, der im Wahlkampf so geschlossen erscheinen sollte, zeigen sich erste Risse. Wer kriegt welches Stück von der Regierungstorte? Diesmal geht es nicht nur um das normale Gerangel um Ministerposten. Das Ausland, Brüssel, die internationale Finanzwelt werden sich sehr genau die Ministerriege anschauen. Wie viele Alt- und Neufaschisten werden dort vertreten sein? Welche Kompetenzen und Erfahrungen verkörpern die Auserwählten?

Sofort nach den Wahlen ist der „Fall Salvini“ auf den Plan getreten. Seine Partei, die „Lega“, hat mit 8,8% der Stimmen sehr schlecht abgeschnitten. Salvinis Zukunft als Sekretär steht auf dem Spiel. Er beharrt auf der Forderung, wieder das Innenministerium zu bekommen, das er schon während der ersten Conte-Regierung 2018/19 besetzt hatte. Von dort will er seine Hauptkarten ausspielen: Bekämpfung der irregulären Zuwanderung, Beendigung der Bootsankünfte im Mittelmeer, geschlossene Häfen, Repression der nichtstaatlichen Seenotrettungsorganisationen, Beschlagnahme ihrer Schiffe, Inhaftierung und Sofortabschiebung der „sans-papier“, Erweiterung der Abkommen mit Libyen, Tunesien und weiteren Drittländern.

Nicht, dass dieses Programm so anders wäre als das von Meloni verfolgte. Aber Salvini hatte damals international eine schlechte Figur abgegeben. Bei den meisten Innenministerkonferenzen der EU war er nicht erschienen. Auch in seinem Ministerium hat er sich selten blicken lassen. Stattdessen zog er mit seinen populistischen Reden durch das ganze Land, mit Vorliebe für Strände, und bombardierte die Social-Networks mit Alarmmeldungen. Dazu kommt, dass gegen Salvini ein Strafprozess läuft, in dem er wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch angeklagt ist. Salvini hatte als Innenminister die Ausschiffung von über hundert Flüchtlingen und Migranten in Lampedusa untersagt, obwohl diese schon 19 Tage im Rettungsschiff „Open Arms“ verbringen mussten, weil kein Hafen Einfahrerlaubnis gegeben hatte. Der Senat hatte die parlamentarische Immunität Salvinis aufgehoben. Eine Verurteilung zu langjähriger Freiheitsstrafe ist nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht ausgeschlossen. Also, für Meloni der falsche Mann am falschen Platz, für das Image, das Meloni sich und ihrer Regierung, zumindest erstmal, geben will. Aber Salvini pokert hoch und droht, dass die „Lega“ sich nicht an der Regierung beteiligen, sondern sie nur von außen unterstützen würde. Ein Ende des Zwists ist bisher nicht abzusehen.

Der andere „Fall“ ist Silvio Berlusconi, der zwei Tage vor der Wahl in einer Fernsehshow dem Publikum erklärt hat, dass Putin zu dem Einmarsch in die Ukraine gezwungen worden wäre, dass es ja nur darum ging, Selensky durch „anständige Leute“ (sic!) zu ersetzen und dass es falsch gewesen sei, die russischen Truppen von der Gegend um Kiew abzuziehen. Natürlich hat Berlusconi danach gesagt, er sei falsch verstanden worden. Berlusconi wird, schon wegen seiner 86 Jahre, keinen wichtigen Posten in der Regierung erhalten, aber er selbst behauptet, der Steuermann der neuen Regierung sein zu wollen.

Es gibt Stimmen, die der neuen Regierung nicht mehr als sechs Monate Leben voraussagen. Aber selbst dann wäre, bei der Zusammensetzung des Parlaments, keine wesentlich andere Regierung in Sicht.


[1] ihe Nando Pagnoncelli, Leiter des Forschungsinstituts Ipsos, Corriere della Sera, 26. September 2022

[2] U.a. Cas Mudde, The Guardian, 26.September 2022


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de