Enttäuscht von Russland: Armeniens sicherheitspolitische Ernüchterung

Kommentar

Nach der Niederlage Armeniens im Krieg in Bergkarabach 2020 überschlagen sich die sicherheitspolitischen und damit verbundenen außenpolitischen Entwicklungen in der kleinen südkaukasischen Republik in einem noch nie da gewesenen Tempo. Auf der Suche nach ergänzenden Sicherheitsgarantien hat Armenien den Blick nach Westen gerichtet und somit zwangsläufig den Unmut seines strategischen Sicherheitspartners Russland erweckt. Welche Folgen das mit sich bringen wird, ist noch schwer einzuschätzen.

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Jerewan

Die Untätigkeit Russlands als sicherheitspolitischer Verbündeter Armeniens und die Weigerung der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit[1] (OVKS), deren Mitglied Armenien ist, während der jüngsten militärischen Auseinandersetzung an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze den Bündnisfall auszurufen, scheinen in der armenischen Gesellschaft eine Zäsur zu markieren. Der öffentliche Diskurs ist jetzt durch den Leitgedanken bestimmt, dass Armenien sein an Russland und der OVKS orientiertes sicherheitspolitisches Konzept überdenken sollte. Inzwischen hat sich sogar eine kleine gesellschaftliche Bewegung formiert, die von der Regierung einen baldigen Austritt aus der OVKS fordert.

Nach den Gefechten in diesem September bezweifelt zum ersten Mal auch die politische Führung Armeniens öffentlich, ob man die Mitgliedschaft des Landes in der OVKS weiterhin als ernst zu nehmende Sicherheitsgarantie betrachten könne. Der Parlamentsvorsitzende Alen Simonyan und der Vorsitzende des Sicherheitsrates Armen Grigoryan fassten es folgendermaßen zusammen: die Erwartungen Armeniens seien von der OVKS nicht erfüllt worden und man müsse einsehen, dass das Bündnis nicht dem Zweck diene, zu dem Armenien ihm beigetreten sei.

Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan gab in seiner Rede zu verstehen, dass das Land sich unter diesen Umständen nach ergänzenden Sicherheitsmaßnahmen umschauen sollte. Es gebe im Übrigen nicht nur Probleme bei der Erfüllung der OVKS-Bündnispflichten, sondern auch bei den Waffenlieferungen. Ohne Namen zu nennen bezog er sich auf millionenschwere Anzahlungen, die Armenien für Waffenkäufe geleistet habe, ohne Lieferungen zu erhalten, auch nicht durch enge Partner. Außerdem gebe es große Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Waffen durch neue Anbieter, wobei zuwiderlaufende Interessen der bereits bestehenden Partnerschaften in diesem Feld als Grund vermutet werden. Erinnert man sich daran, dass Armenien ca. 85% seiner Rüstungsgüter aus Russland bezieht, dürften keine Zweifel bestehen, welchen Partner der armenische Regierungschef gemeint haben könnte.

Russlands Interessen im Südkaukasus

Auf den ersten Blick scheint die Haltung Russlands im Widerspruch zu den hoch gelobten brüderlichen und strategisch-partnerschaftlichen Beziehungen mit Armenien zu stehen. Doch wirft man einen Blick auf Russlands Interessenlage in der Region, werden andere Zusammenhänge erkennbar, die sein Handeln bestimmen könnten.

So blieb nach der Aufgabe seiner Militärbasen in Georgien 2008 und Aserbaidschan 2012 Russland militärisch nur in Armenien präsent. Der russische Präsident war deshalb in den Folgejahren bemüht, bei wachsender Konkurrenz mit der Türkei um Einfluss in Aserbaidschan diese ehemalige Sowjetrepublik wieder an sich zu binden. Denn die Bedeutung Aserbaidschans als Energieexporteur und Transitland zwischen Europa und Asien mit wichtigen Öl- und Gaspipelines ist für Russland hoch. Darüber hinaus hatte man im Kreml wohl die Sorge, durch den Verlust Aserbaidschans als engen Partner zur Stärkung der Achse Ankara-Tiflis-Baku beizutragen.

Deshalb ist Russland auch nicht bereit, sich im Bergkarabach-Konflikt[2] zwischen Armenien und Aserbaidschan als Armeniens Verbündeter weit aus dem Fenster zu lehnen. Armenien ist im Gegensatz zu Aserbaidschan an allen von Russland initiierten Integrationsprojekten beteiligt und sicherheitspolitisch wie wirtschaftlich von ihm abhängig. Russland sieht deshalb keinen Grund, besondere Rücksicht auf armenische Belange zu nehmen, die im Wiederspruch zu aserbaidschanischen stehen könnten.

Russlands Ruf im freien Fall

Die im letzten Jahrzehnt besonders eng gewordenen türkisch-aserbaidschanischen Beziehungen haben zur Folge, dass Russland in allen Fragen, die Aserbaidschan betreffen, auch die Türkei und ihre möglichen Reaktionen berücksichtigt. Somit ist Armenien in eine Situation geraten, in der seine Beziehungen zu seinem engsten Partner durch die Interessen anderer Länder bestimmt werden, die in der Sicherheitsdoktrin Armeniens als Hauptbedrohung definiert sind. Diese Erkenntnis belebte bei Armeniern ein historisches Trauma: den Verlust fast der Hälfte ihres damaligen Siedlungsgebietes an die Türkei und die Sowjetrepublik Aserbaidschan im Zuge des Freundschaftsvertrages zwischen dem bolschewistischen Russland und der kemalistischen Türkei im Jahr 1921.

Auch dadurch nehmen russlandkritische Stimmungen im Land zu. Eine Umfrage aus dem Jahr 2021 zeigte, dass Russland nur noch von 35% der Armenier als befreundetes Land wahrgenommen wird. Bis zum viertägigen armenisch-aserbaidschanischen Krieg 2016 lag dieser Wert über 80%, danach sank er auf 64%. Es ist zu erwarten, dass neue Umfragen nach der jüngsten militärischen Eskalation im September keine Verbesserung dieses Wertes aufweisen werden. Wenn Russland nicht reagiert, verspielt es das ihm als Verbündeten noch verbliebene Vertrauen. Allerdings muss in diesem Zusammenhang auch konstatiert werden, dass die Invasion in der Ukraine Russland zu noch größerer Rücksichtnahme auf das türkisch-aserbaidschanische Bündnis gezwungen zu haben scheint.

In Armenien ist dieser Sachverhalt augenscheinlich akzeptiert worden und man sucht jetzt die politische Unterstützung des Westens. Hier könnte sich ein politischer Ausweg aus Armeniens bedrohlicher sicherheitspolitischen Lage zeigen.

Übernimmt die EU die Federführung?

Seit dem Krieg 2020[3] intensivierten die EU und die USA ihre Bemühungen, zur Entspannung der sicherheitspolitischen Lage zwischen Armenien und Aserbaidschan beizutragen und den Weg für Friedensverhandlungen zu eröffnen. So hat der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, inzwischen mehrere trilaterale und bilaterale Treffen mit dem armenischen Premierminister und dem aserbaidschanischen Präsidenten in Brüssel durchgeführt. Der französische Präsident ist mit den Konfliktparteien ebenfalls häufig in Kontakt.

Auf dem Gipfel der neuen Europäischen Politischen Gemeinschaft in Prag am 6. Oktober 2022 fand auf europäische Initiative hin eine Zusammenkunft zwischen dem armenischen Regierungschef Paschinjan und dem aserbaidschanischen Präsidenten Alijew mit Charles Michel sowie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron statt, welche als weiterer wichtiger Schritt der Konfliktbearbeitung angesehen werden darf. Die Beteiligten gaben eine gemeinsame Erklärung ab, worin sich Armenien und Aserbaidschan verpflichten, laut der Satzung der UN und der Erklärung von Alma-Ata 1991 (die Gründungsurkunde der im Auflösungsprozess der UdSSR entstandenen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten - GUS) gegenseitig ihre territoriale Integrität und Souveränität anzuerkennen. Die Konfliktparteien bestätigen zudem, dass diese Anerkennung die Basis der Delimitation und der Demarkation der armenisch-aserbaidschanischen Grenze bilden muss, wofür bereits eine armenisch-aserbaidschanische Kommission gebildet worden ist (sie hatte ihre erste Tagung in Moskau). Die nächste Sitzung der Kommission wird Ende Oktober in Brüssel stattfinden. Darüber hinaus wird ab Oktober für zunächst zwei Monate eine zivile Beobachtungsmission der EU entlang der armenischen Grenze zu Aserbaidschan eingesetzt, deren Aufgabe die Lagebeobachtung, Vertrauensbildung und Unterstützung der Grenzkommission ist. Nach dem Treffen in Prag wurde außerdem bekannt, dass bis Ende dieses Jahres ein Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan unterzeichnet werden könnte.

Möglicherweise übernehmen bald die EU und die USA die politische Federführung im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Diese Rolle hatte zuvor jahrzehntelang Russland als Hauptvermittler inne. Die russische Beteiligung am Konfliktmanagement würde dann hauptsächlich im Einsatz seiner 2000 Mann starken „Friedenstruppe“ bestehen, die seit dem Waffenstillstand am 9. November 2020 für einen Zeitraum von fünf Jahren in Bergkarabach stationiert ist (mit der Option auf Verlängerung, wenn beide Konfliktparteien einverstanden sind). Auch der Umstand, dass der letzte Waffenstillstand zum ersten Mal in der Geschichte des Bergkarabach-Konfliktes nicht durch den russischen Präsidenten im Alleingang vermittelt wurde, sondern mit der intensiven Beteiligung der USA und der EU, spricht dafür, dass Russland die Rolle des alleinigen „Chefvermittlers“ möglicherweise verloren hat. Die Reaktion Moskaus auf die Prager Vereinbarungen und den schnell erfolgten operativen Beschluss der EU, die Grenzmission in den kommenden Tagen nach Armenien zu schicken, zeigt jedoch, dass Russland dieser Verschiebung nicht tatenlos zusehen will.

Prompt vereinbarte nämlich der Außenminister Lawrow am 13/14. Oktober bilaterale und trilaterale Treffen mit den armenischen und aserbaidschanischen Amtskollegen und kündigte an, die OVKS sei ebenfalls bereit, eine Mission entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze auf der armenischen Seite zu stationieren. Während der russische Außenminister Gespräche führte, kam die technische Gruppe der zivilen EU-Mission in Jerewan an. Moskau wirft jetzt dem Westen vor, er wolle durch seine Einmischung in den Friedensprozess Russlands Bemühungen als Vermittler einschränken und womöglich auch in Armenien das durchspielen, was man in der Ukraine bereits getan habe.

Die Frage des zukünftigen Schicksals von Bergkarabach wird im Rahmen der aktuellen offiziellen Begegnungen nicht öffentlich diskutiert. Doch die angestrebte gegenseitige Anerkennung der territorialen Integrität deutet an, dass es wahscheinlich eine Lösung auf der Grundlage der Staatsgrenzen Aserbaidschans zum Stand des Zerfalls der Sowjetunion sein wird. Wie der zukünftige Status des einst autonomen Gebietes Bergkarabach dann aussehen wird, steht noch offen. Zum jetzigen Zeitpunkt zumindest schließt der aserbaidschanische Präsident jegliche Autonomierechte für Bergkarabach aus. Direkt nach dem Treffen in Prag empfahl er den Bergkarabach-Armenier*innen vor der Presse, sich mit dem Gedanken abzufinden, einfache Bürger*innen Aserbaidschans zu werden, was sie - laut Alijew - nicht bereuen würden. Den hierzu nicht Bereiten riet der Präsident, sich einen anderen Wohnort zu suchen.

Die Bedeutung der Prager Erklärung für Armenien lässt sich erst dann richtig einschätzen, wenn man einen Blick auf die Geschehnisse an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze seit dem Ende des Krieges 2020 wirft.

Die jüngste militärische Eskalation

In der Nacht des 13. September 2022 brachen an mehreren Stellen der armenisch-aserbaidschanischen Grenze schwere Kämpfe aus.  Baku machte Armenien dafür verantwortlich, Armenien hingegen gab Aserbaidschan die Schuld. Jerewan verwies darauf, dass man nach den schweren Verlusten im Krieg 2020 und wegen der prekären Sicherheitslage sowie der wirtschaftlichen Herausforderungen anderes zu tun habe, als einen Krieg heraufzubeschwören, wohl wissend, dass der Gegner militärisch überlegen und sich der uneingeschränkten Unterstützung der Türkei sicher sei.

Aserbaidschan bezifferte seine Verluste in dieser Auseinandersetzung mit 79 Toten und  282 Verwundeten. Armenien hatte 201 Tote und über 293 Verwundete sowie Dutzende von Aserbaidschan gefangen genommene Soldaten zu beklagen. Hinzu kommt der Verlust von 10 km² seines international anerkannten Staatsgebietes (2021 hat Armenien in einer ähnlichen Situation bereits 42km² Fläche an Aserbaidschan verloren). Infolge der zweitägigen Kämpfe waren ca. 8000 Einwohner*innen der armenischen grenznahen Dörfer und Städte, die durch Raketen- und Kampfdrohnenbeschuss in Teilen zerstört wurden, evakuiert worden. In Anbetracht der über 20000 Flüchtlinge aus Bergkarabach aus dem Krieg 2020, die in Armenien Schutz gefunden haben, ist die Versorgung dieser Menschen mit Unterkunft und Verpflegung eine weitere Belastung für das wirtschaftlich schwache Armenien.

Eine Woche nach den Kämpfen übergab Aserbaidschan die Leichen von 133 armenischen Soldaten über das Rote Kreuz an Armenien. Anfang Oktober entließ Baku dann 17 armenische Kriegsgefangene. Die Freilassung geschah unter internationalem Druck und durch Vermittlung der USA, nachdem im Internet ein Video über die Hinrichtung mehrerer armenischer Gefangener durch aserbaidschanische Soldaten kursierte. Die internationale Gemeinschaft rief Aserbaidschan auf, den Fall umfassend aufzuklären.

Die OVKS: eher ein Vertrag über kollektive Untätigkeit

Am ersten Tag des Ausbruchs der Gefechte hatte Armenien Bündnisfall-Anträge an die OVKS und an Russland gestellt, mit dem das Land seit 1997 ein bilateraler Vertrag über Freundschaft, Kooperation und gegenseitige Hilfe verbindet. Armenien wandte sich zudem an die UN.

Artikel 4 der OVKS beschreibt einen Bündnisfall folgendermaßen: Wenn ein Mitgliedland militärisch angegriffen wird und seine Sicherheit, Stabilität, territoriale Integrität und Souveränität bedroht sind, wird das als Angriff und Bedrohung für alle Mitgliedstaaten gesehen. Das Bündnis hat in diesem Falle unverzüglich die nötige Hilfe - auch militärisch - zu leisten.

Die mehrtägigen Diskussionen mit den OVKS-Bündnispartnern (inzwischen war unter massiven internationalen Druck ein Waffenstillstand vereinbart worden) führten in der armenischen Wahrnehmung zu einem bescheidenen Ergebnis. So wurde nur entschieden, eine Delegation bestehend aus den Vertretern der Mitgliedsländer der OVKS nach Armenien zu schicken, um eine Beobachtung der Lage durchzuführen. In Armenien lautet deshalb ein politischer Witz: Es sind viele Touristen in Armenien unterwegs, die bereits beobachten, welche Zerstörungen die aserbaidschanischen Raketen- und Kampfdrohnen in armenischen Ortschaften angerichtet haben. Die Delegation könne sich ihnen anschließen.

Die Vertreter der OVKS reisten zudem erst am 17. September in Jerewan an. Das Treffen des amtierenden Generalsekretärs der Organisation (ein Vertreter von Belarus) mit dem Regierungschef Armeniens fand am 29. September statt.  Auf Veranlassung Frankreichs hatte bereits am 15. September die Sitzung des Sicherheitsrates der UN stattgefunden, auf der die Kriegshandlungen an der Grenze und der Beschuss armenischer Siedlungen mehrheitlich verurteilt worden waren (eine Resolution wurde aufgrund fehlenden Konsenses nicht verabschiedet).

Vier von fünf ständigen Mitgliedern des UN Sicherheitsrates - die USA, Frankreich, Großbritannien und Russland – forderten die Kriegsparteien auf, ihre Truppen in die ursprünglichen Stellungen zurückzuziehen. Später wurde die internationale Gemeinschaft konkreter, als vor allem die USA, Frankreich, Großbritannien sowie die EU Aserbeidschan dazu aufriefen, seine Truppen aus dem armenischen Staatsgebiet zurückzuziehen. Armenien entging dabei nicht, dass Russland vage in seinen Aufrufen geblieben war. Hier war der Eindruck entstanden, dass beide Konfliktparteien Territorien besetzt hätten, weil beide zum Rückzug aufgerufen worden waren.

Armenien hatte bereits 2021 einen Beistandsantrag an die OVKS gestellt, als aserbeidschanische Truppen an manchen Stellen über die Grenze in Armenien eingedrungen waren und sich dort festgesetzt hatten. Die damaligen Konsultationen waren ebenso ohne Ergebnis geblieben, so dass Armenien auf eine bilaterale Notlösung mit Russland setzen musste. Manche Abschnitte der betroffenen Grenzsektoren werden seitdem durch russische Soldaten besetzt, die in der russischen Militärbasis in Armenien stationiert sind.

Russland: der seltsame Bündnispartner

Noch vor dem Krieg in Bergkarabach 2020 hatte man in Armenien Zweifel an den russischen Schutzversprechen gehegt – an einem vermeintlichen Sicherheitspartner, der im großen Stil hochmoderne Offensivwaffen an das Land verkaufte, das kein Mitglied der OVKS ist und mit dem sich Armenien „de facto“ im Kriegszustand befand.

Laut SIPRI-Daten kauften Armenien und Aserbaidschan im Rüstungswettlauf hauptsächlich russische Waffen, deren Anteil mehr als 80% des gesamten Waffenimports beider Länder ausmachte. Als Mitglied der OVKS erwarb Armenien russische Waffen zu relativ günstigen Konditionen – direkt vom Produzenten unter Umgehung des Vermittlers „Rosoboronexport“. Allerdings war der Umfang armenischer Waffenkäufe vielfach kleiner als der Aserbaidschans. Zum Vergleich: Armeniens jährliches Staatsetat beträgt ca. 3 Mrd. Dollar und entspricht damit in etwa Aserbaidschans jährlichem Militärbudget.

Russland belieferte Aserbaidschan seit 2010 mit hochmodernen und vorwiegend offensiven Waffen im Wert von über 4 Mrd. Dollar. Seit 2015 begann Aserbaidschan seine Waffenimporte zusätzlich zu diversifizieren. Mit der Türkei und Israel wurden milliardenschwere Verträge abgeschlossen.

Als in Armenien öffentlicher Unmut über die russischen Waffenverkäufe an Aserbaidschan laut wurde, wartete Russland mit einer wenig nachvollziehbaren Erklärung auf: indem man Aserbaidschan mit Waffen beliefere, könne man auch die Kontrolle über die Nutzung dieser Waffen ausüben, was doch im Interesse Armeniens sei. Die Frage, warum Aserbaidschan Milliarden ausgeben sollte, wenn Russland ein Recht über die Nutzung der Waffen behalte, blieb unbeantwortet.

Die unter einem politischen Legitimitätsdefizit leidende damalige armenische Führung, die das Land in eine fast absolute Abhängigkeit vom Russland gebracht hatte, klammerte sich jedoch an diese Erklärung, um die Öffentlichkeit zu beruhigen. Viele waren in Armenien der Meinung, dass trotz aller Widersprüche im Ernstfall Russland als Verbündete eintreten würde.

Am 1. April 2016 startete Aserbaidschan dann einen groß angelegten Angriff an der Kontaktlinie zu Bergkarabach, den ersten seit dem Waffenstillstand 1994, um den Status Quo zu ändern (im Zuge des ersten Krieges hatte Armenien nicht nur das umstrittene autonome Gebiet Bergkarabach in der Sowjetrepublik Aserbaidschan, sondern auch die umliegenden sieben aserbaidschanischen Bezirke unter ihre Kontrolle gebracht). In diesem viertägigen Krieg mussten armenische Streitkräfte die Erfahrung machen, dass die gegnerische Seite eine große Palette von modernen russischen Waffen besaß, über die man selbst nicht verfügte. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte Russland noch nicht die von Armenien bestellten modernen Raketensysteme geliefert, deren Kauf im Vorfeld als ein substantieller Beweis für die Effektivität des armenisch-russischen Bündnisses gepriesen worden war.   

Die nun ausufernde öffentliche Kritik in Armenien zwang den damaligen Präsidenten Sersch Sargsjan, öffentlich Stellung zu nehmen. Beim Besuch des russischen Premierministers Medwedjew machte er eine für armenische Verhältnisse sehr offene Bemerkung: Russland sei bestimmt darüber informiert, dass Aserbaidschan im vollen Umfang von den russischen Waffen Gebrauch gemacht hätte, was die freundschaftlichen Gefühle der Armenier gegenüber Russland beeinträchtigt habe.

Diese Beschreibung war geradezu euphemistisch, denn die antirussische Stimmung hatte sich nahezu ins Feindliche gesteigert. Daraufhin erst lieferte Russland die bestellten Waffen an Armenien. Allerdings setzte Moskau danach die Waffenlieferungen auch an Aserbaidschan fort und klärte die armenische Gesellschaft auf, dass dies ein natürlicher Vorgang im Kontext der bilateralen Handelsbeziehungen sei. Der armenischen politischen Führung blieb nichts übrig, als sich damit abzufinden.

Die öffentliche Kritik in Armenien nahm auch Anstoß daran, dass 2013 der amtierende Sersch Sargsjan unter russischem Druck auf die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU zugunsten des Beitritts zur durch Russland initiierten und dominierten Zollunion, später Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU), verzichtet hatte. Ohne auf Details einzugehen, gab damals die politische Führung Armeniens zu verstehen, dass diese Entscheidung aus sicherheitspolitischen Gründen getroffen worden sei: man solle nicht vergessen, dass Armenien immer noch einer von Aserbaidschan und der Türkei ausgehenden Gefahr ausgesetzt sei. Durch eine noch engere Kooperation mit Russland wären Armeniens Sicherheitsbedürfnisse besser gedeckt.

Gerade wegen des Bergkarabach-Konfliktes und der durch den Genozid an der armenischen Minderheit im osmanischen Reich nicht normalisierten Beziehungen mit der Türkei sah man in Armenien die russische Militärpräsenz als unerlässlich an. Daher war es nicht verwunderlich, dass Russland die Nutzung seiner Militärbasis[4] in Armenien im Jahr 2010 bis zum Jahr 2044 verlängern konnte (für seine Basis zahlt Russland keine Pachtgebühr; Armenien trägt sogar die Nebenkosten der Basis). 

Während des Kriegs in Bergkarabach 2020 hatten noch viele Armenier*innen Verständnis für die extreme Zurückhaltung Russlands und der OVKS, weil eine strittige völkerrechtliche Bewertung im Bergkarabach-Konflikt vorlag. Damals hatten Russland und die OVKS erklärt, dass für sie die Grenze Armeniens die rote Linie darstelle, bei deren Überschreitung man in vollem Umfang den Bündnispflichten nachkommen würde. Seit dem Waffenstillstand 2020 hatte Aserbaidschan allerdings mehrmals diese rote Linie überschritten, ohne dass Russland und die OVKS reagiert hätten. Dem steht der Einsatz der Truppen der OVKS in Kasachstan während der dortigen innenpolitischen Unruhen im Januar 2022 gegenüber. Damals war die Entscheidung zum Eingreifen in der Organisation binnen Stunden erfolgt, so dass bereits am nächsten Tag Militärtransportflugzeuge in der Hauptstadt Astana landeten. Zu diesem Zeitpunkt konnte den OVKS-Ländern eigentlich nicht klar sein, worin und in welchem Ausmaß die konkrete Gefahr in dieser innenpolitischen Gemengelage bestand, die zum ersten Mal seit der Existenz der Organisation den Bündnisfall ausrufen ließ (zu beachten ist, dass Russland in der OVKS aufgrund seines um vielfach größeren Einsatzes an Finanz- und militärischen Ressourcen das Schwergewicht ist und die Entscheidungen der Organisation weitgehend als die des russischen Präsidenten betrachtet werden können). So musste die Regierung von Ministerpräsident Paschinjan ungeachtet der massiven Kritik der armenischen Öffentlichkeit die in die OVKS eingegliederte armenische Truppe nach Kasachstan schicken. Die Regierung rechtfertigte dabei ihr Handeln mit der Begründung, dass man als Bündnispartner seine Pflicht zu erfüllen habe und das gleiche erwarte, wenn Armenien selber bedroht sei.

Ausblick

Seit dem 13. September wissen die Armenier, dass weder die Mitgliedschaft in der OVKS noch die russische Militärbasis in Armenien ihre Sicherheit in der Weise gewährleistet, wie man es jahrzehntelang angenommen hatte.

Jetzt muss Armenien unter enormem zeitlichen und sicherheitspolitischen Druck Korrekturen in seiner Sicherheitsarchitektur vornehmen.  Armenien blickt dabei auf die EU und die USA, wobei es nicht primär um militärische Unterstützung geht. Man hofft, dass die westliche Staatengemeinschaft spürbaren politischen Druck auf Aserbaidschan ausüben werde, damit dessen Truppen vom international anerkannten armenischen Staatsgebiet zurückgezogen werden und die anstehenden Friedensverhandlungen nicht durch eine weitere militärische Auseinandersetzung torpediert werden.

Die Entsendung einer zivilen Mission der EU an die armenisch-aserbaidschanische Grenze nimmt man in Armenien jetzt als Zeichen dafür wahr, dass der Appell angekommen ist. Ob diese Annahme sich bewahrheitet und die Mission die Erwartungen Armeniens erfüllt, wird sich in den nächsten Monaten zeigen.  


Anmerkungen

[1] Nach dem Zerfall der UdSSR wurde 1992 als sicherheitspolitische Lösung für manche Nachfolgestaaten der Vertrag über kollektive Sicherheit unterzeichnet. Er war zunächst für fünf Jahre angelegt mit der Option auf Verlängerung. Die Gründungsmitglieder waren Russland, Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan. 1993 schlossen sich auch Belarus, Georgien und Aserbaidschan an. Der Vertrag trat am 20. April 1994 in Kraft. 1999 verlängerten Russland, Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan den Vertrag; Aserbaidschan, Georgien und Usbekistan hingegen nicht. 2002 verliehen die Mitgliedstaaten dem Vertrag über kollektive Sicherheit den Status einer internationalen regionalen Organisation und benannten ihn in Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) um

[2] 1921 beschloss das Kaukasus-Büro des Zentralen Komitees der Kommunistischen Partei, die bereits vorher zwischen Armeniern und Aserbaidschanern umstrittene, über 70% armenisch bevölkerte Region Bergkarabach (armenische Bezeichnung Arzach) als ein autonomes Gebiet Aserbaidschan zuzuschlagen. Während der Sowjetzeit wandten sich die Bergkarabach-Armenier mit Petitionen an Moskau, das autonome Gebiet Armenien anzuschließen. Sie warfen der zentralen Regierung in Baku vor, Armenier massiv zu diskriminieren und durch gezielte Politik das demographische Bild Bergkarabachs zu Gunsten Aserbaidschaner zu ändern.

Im Zuge der Perestrojka- und Glastnostpolitik Michajil Gorbachows nahm 1988 eine Protestbewegung in Bergkarabach und Armenien das Anliegen wieder auf. Moskau war entschlossen, keinen Präzedenzfall zuzulassen, um nicht mit weiteren ethno-territorialen Konflikten in der UdSSR konfrontiert zu werden.

Im Dezember 1991 hielten die Bergkarabach-Armenier*innen im autonomen Gebiet ein Referendum ab und stimmten für den Austritt aus Aserbaidschan. Die Aserbaidschaner*innen in Bergkarabach nahmen nicht am Referendum teil. Die Ergebnisse wurden von der Zentralregierung in Baku nicht anerkannt. 1992 brach zwischen Armenien und Aserbaidschan einen regulären Krieg aus. Die Bergkarabach-Armenier*innen erhielten militärische Unterstützung durch Armenien und gingen aus diesem Krieg als Sieger hervor. 1994 wurde unter Russlands Vermittlung ein Waffenstillstand vereinbart. Seitdem wurden Verhandlungen unter der Mediation der so genannten Minsker Gruppe (deren Vorsitz Russland, die USA und Frankreich innehaben) der OSZE geführt, die allerdings keine Ergebnisse erzielen konnte. (Quellen: Thomas De Waal: “Black Garden”; Tatul Hakobyan: “Karabakh Diary, Green and Black: Neither War nor Peace”).

[3] Durch den zweiten Karabach-Krieg 2020 wurde der Status Quo geändert: unterstützt durch die Türkei eroberte Aserbaidschan nicht nur die aserbaidschanischen Gebiete zurück, sondern auch einen Teil Bergkarabachs. Nachdem unter Russlands Vermittlung am 9. November 2020 ein Waffenstillstand zustande kam, wurden 2000 russische Friedenssoldaten für einen Zeitraum von fünf Jahren in Bergkarabach stationiert.

[4] Diese Basis wurde 1941 gegründet. Die Stadt Gjumri, in der die Basis liegt, liegt nur 12 km von der Grenze zur Türkei entfernt. Die 289km lange Außengrenze Armeniens mit der Türkei und die 37 km lange Grenze mit dem Iran werden seitdem durch russische Grenztruppen geschützt. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde die Anwesenheit der russischen Basis durch den Vertrag über den rechtlichen Status der russischen Streitkräfte in Armenien von 1992 und den Vertrag über die 102. russische Militärbasis von 1995 geregelt.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de