Beargwöhnt und heraus­gehoben: Jüdinnen*Juden in der DDR

Analyse

Die Geschichte der Jüdinnen*Juden in der DDR beginnt nicht erst mit der Gründung des Staates am 7. Oktober 1949. Vielmehr wurden schon seit Mai 1945 die Weichen gestellt für die spätere Teilung in Ost und West, den Kalten Krieg, die stalinistischen Säuberungen und die Bedingungen jüdischen Lebens im Osten.

Teaser Bild Untertitel
Coverbild der Publikation „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR“, Alice Zadek mit ihrer Tochter Ruth und ihrem Neffen David Hopp auf der Stalinallee (Karl-Marx-Allee), Fotograf: Gerhard Zadek, Berlin ca. 1956

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoa

Eine äußerst heterogene Gruppe von überlebenden Jüdinnen*Juden fand sich nach dem Ende von Krieg und Verfolgung sowohl in der sowjetischen als auch den drei anderen Besatzungszonen des zerstörten, zerstückelten Täter-Landes zusammen. Sie waren aus den Vernichtungslagern befreit worden, hatten in den Armeen der Alliierten gekämpft oder kehrten aus dem Exil zurück, sie hatten im Untergrund überlebt oder waren von ihren nicht­jüdischen Ehepartner*innen geschützt worden. Ein Teil von ihnen betrachtete den Aufenthalt in Deutschland zunächst nur als Zwischenstation auf dem Weg nach Palästina oder in die USA. Zahlreiche andere kamen ganz bewusst nach Deutschland zurück, weil sie hofften, dort eine neue Gesellschaft mitgestalten zu können.

Die Entscheidung zu bleiben oder sich erneut ins Exil oder gar auf die Flucht zu begeben, stand indes nicht immer mit den ursprünglichen Hoffnungen oder Absichten in Verbindung Exemplarisch können dafür die Lebenswege von Julius Meyer und Heinz Galinski stehen, die beide Ende der 1940er-/Anfang der 1950er-Jahre zu führenden Persönlichkeiten der Berliner Jüdischen Gemeinde wurden. Beide Männer hatten Auschwitz und weitere Konzentrationslager überlebt. Heinz Galinski, der erst 1949 seine Auswanderungspläne nach Argentinien aufgab, wurde später der erste Vorsitzende der Westberliner jüdischen Gemeinde und war bis zu seinem Tod 1992 der bekannteste Repräsentant der Juden in der Bundesrepublik. Julius Meyer, der sich als Mitglied der KPD/später SED, als Abgeordneter der Volkskammer und in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) für eine Zukunft der Überlebenden der Shoa in einem demokratischen und sozialistischen Deutschland engagiert hatte, musste 1953 aus der DDR fliehen und starb 1979 zurückgezogen im brasilianischen Sao Paulo.

Ein wichtiger Ziel- und Knotenpunkt für den Rück- und Zustrom der Überlebenden und Remigrant*innen war Berlin, das von den vier Besatzungsmächten verwaltet wurde. Die neu konstituierte Berliner Jüdische Gemeinde hatte ihren Sitz im sowjetischen Sektor in der Oranienburger Straße. Ihr erster kommissarischer Vorsitzender, Erich Nelhans, gehörte zu der damals innerhalb der Gemeinde dominierenden Gruppe, die jüdisches Leben in Deutschland nach der Shoa nicht mehr für möglich hielt und sich für die Übersiedlung nach Palästina und den Aufbau eines jüdischen Staates einsetzte.

Nelhans kümmerte sich auch um die Holocaust-Überlebenden aus Osteuropa, die zu Zehntausenden vor dem polnischen Nachkriegsantisemitismus in Richtung Westen flohen. Viele von ihnen meldeten sich bei der Jüdischen Gemeinde im sowjetischen Sektor von Berlin, von wo sie in die amerikanischen und französischen Sektoren weitergeleitet wurden, in denen Lager für Displaced Persons1 eingerichtet worden waren. Nelhans geriet ins Visier des sowjetischen Geheimdienstes, nachdem er jüdischen Rotarmisten zur Flucht in den Westen verholfen hatte. Er wurde im März 1948 in seiner Ostberliner Wohnung verhaftet und von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. 1950 starb er im mordwinischen DubrawLag.

Bereits im Sommer und Herbst 1945 konstituierten sich auch in einigen anderen Städten in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) jüdische Gemeinden. Initiiert wurden sie zumeist von Jüdinnen*Juden, die durch ihre nicht­jüdischen Ehepartner*innen vor der Deportation bewahrt worden waren. Zu ihnen gesellten sich in den folgenden Wochen und Monaten Überlebende aus den Lagern und Ghettos, Flüchtlinge aus Osteuropa sowie aus dem Versteck Aufgetauchte. Die Zahl der Mitglieder in diesen ersten Gemeinden in Leipzig und Zwickau, Dresden, Chemnitz, Erfurt und Magdeburg wuchs zunächst rasch an und verminderte sich spätestens seit 1949 in ähnlichem Tempo. Kleinere Gemeinden zum Beispiel in Plauen, Mühlhausen, Eisenach und Jena lösten sich zwischen 1948 und 1953 wieder auf.

Neubeginn

Der Versuch eines Neu­beginns jüdischen Lebens fand unter widersprüchlichen Bedingungen statt. Die sowjetische Militäradministration und die meisten Länderregierungen unterstützten die Wieder- bzw. Neugründung der Gemeinden und bemühten sich um die Versorgung der überlebenden Rückkehrer*innen und Zuwanderer*innen mit dem Allernötigsten, während in der Bevölkerung ebenso wie in lokalen Behörden der Antisemitismus nach wie vor virulent war. So wurden beispielsweise im April 1946 in der vertraulichen Dienstanweisung einer Erfurter Polizeiinspektion die größtenteils vor Pogromen in Polen geflüchteten „Ostjuden“ als „unerwünschte Personen“ bezeichnet.

In diesen ersten Jahren waren die Gemeinden vor allem mit der Sicherung des täglichen Lebens ihrer Mitglieder beschäftigt. Die meisten hatten alles verloren. Sie benötigten ein Dach über dem Kopf, Kleidung, gesundheitliche Betreuung, finanzielle Unterstützung und - in einem Land, in dem der Hunger herrschte – vor allem zusätzliche Lebensmittelrationen.

Um diese Aufgaben zu bewältigen, arbeiteten die Gemeindevertreter*innen eng mit den örtlichen Ausschüssen für die Opfer des Faschismus (OdF) zusammen. In den OdF-Ausschüssen, die mehrheitlich von aus der Haft befreiten politischen Häftlingen gegründet worden waren, hatte es im Sommer 1945 zunächst Widerstände gegeben, Holocaust-Überlebende als „Opfer des Faschismus“ anzuerkennen, mit der Begründung, sie hätten zwar „Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft“[1]. Bereits wenige Monate später, im Oktober 1945, wurde diese Einstellung auf der Leipziger Tagung der OdF-Ausschüsse aus allen Teilen der SBZ korrigiert. Der Meinungsumschwung war vor allem dem Engagement von Julius Meyer und Heinz Galinski zu verdanken, die im Berliner OdF-Hauptausschuss daraufhin die Abteilung „Opfer der Nürnberger Gesetz­gebung“ gründeten. Dringend benötigte Hilfe für die Überlebenden kam auch vom „Joint Distribution Committee“ (kurz Joint genannt), einer jüdisch-amerikanischen Hilfsorganisation, deren Lebensmittelspenden und Hilfeleistungen über die jüdischen Gemeinden verteilt wurden, seit 1947 auch in der SBZ.

1947/48 wurde in allen vier Besatzungszonen die Vereinigung der Verfolgten des Nazi­regimes (VVN) gegründet, die sich anfangs als überparteiliche Interessenvertreterin aller Verfolgten verstand. Unter den Mitgliedern der Vereinigung bildeten die jüdischen NS-Verfolgten eine große Gruppe, in Berlin waren sie sogar in der Mehrheit. Obwohl in der VVN die Unterscheidung zwischen „Kämpfern“ und „Opfern“ ein Streitpunkt blieb, funktionierte die Zusammenarbeit zwischen VVN und Jüdischen Gemeinden zunächst gut, nicht zuletzt, weil führende Repräsentant*innen der Jüdischen Gemeinden häufig zugleich Funktionen in der Vereinigung innehatten.

Das gehörten neben Heinz Galinski und Julius Meyer unter anderen Leon Löwenkopf, der nach seiner Flucht aus dem Warschauer Ghetto in einer polnisch-jüdischen Widerstandsgruppe gekämpft hatte. Er war Mitglied der SED, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Dresden und einer der Mitbegründer der VVN. Fritz Katten, der mit Frau und Sohn in Berlin versteckt überlebt hatte, war ebenfalls SED-Mitglied, VVN-Vorstandsmitglied, stellvertretender Vorsitzender der Repräsentantenversammlung der Berliner Jüdischen Gemeinde sowie Verwaltungspolizeidirektor im Rang eines Obersten. Jeannette Wolff gehörte der Repräsentantenversammlung der Gemeinde an, außerdem war sie SPD-Abgeordnete in der bis September 1948 noch Gesamtberliner Stadtverordnetenversammlung und Co Vorsitzende der Berliner VVN. Doch bereits wenige Monate nach ihrer Wahl trat sie von ihrer VVN-Funktion wieder zurück, da sie die parteipolitische Neutralität der Organisation nicht mehr gewährleistet sah.

Kalter Krieg

Bereits 1948 war die Chance auf ein gemeinsames Handeln der vier Besatzungsmächte in Deutschland bei der Überwindung des nationalsozialistischen Erbes sichtbar vorbei. Der Kalte Krieg und die Gründung von BRD und DDR setzte neue machtpolitische Prioritäten, an denen die ohnehin fragilen antifaschistischen Bündnisse zerbrachen.

Während die VVN in der Bundesrepublik 1950 als „radikale Organisation“ eingestuft und vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, besaß die Organisation in der DDR bis zu ihrer erzwungenen Auflösung 1953 ein großes politisches und moralisches Gewicht: Die Ost-VVN stellte Abgeordnete, unterhielt Kurheime, gab mehrere Zeitschriften heraus und verfügte über einen Buchverlag. Unter anderem nahm sie Einfluss auf die Ausarbeitung eines Wiedergutmachungsgesetzes. Dieses enthielt Klauseln für eine besondere Rentenregelung, bevorzugte Gesundheitsversorgung, eine bevorzugte Versorgung mit Wohn- und Gewerberaum, Hausrat und knappen Konsumgütern, jedoch keine für Rückerstattung geraubten Eigentums oder materielle Entschädigungen.

Die anfangs postulierte Überparteilichkeit der VVN bestand bald nur noch auf dem Papier. Seit 1948 erlangte die SED nach und nach die Kontrolle über die leitenden Gremien der Vereinigung und begann deren Tätigkeit dem neuen Freund-Feind-Denken des Kalten Krieges unterzuordnen.

Der Slánský-Prozess und seine Folgen

Spätestens seit dem stalinistischen Schauprozess gegen Rudolf Slánský Ende 1952 in Prag, der eine eindeutig anti­semitische Färbung hatte, standen die Jüdinnen*Juden in der DDR unter doppeltem Druck: Auf der einen Seite mussten sie sich gegen die fortdauernde und sogar wieder anwachsende Feindseligkeit großer Teile der Bevölkerung wehren, auf der anderen Seite waren sie dem stalinistischen Antisemitismus aus der Sowjetunion ausgesetzt.

Nachdem Julius Meyer, SED-Mitglied und Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, 1953 in Vernehmungen gegenüber der sowjetischen Kontrollkommission sowie der Kontrollkommission der SED aufgefordert worden war, die Listen der Empfänger*innen von Joint-Paketen auszuhändigen und den Dachverband zu einer öffentlichen Distanzierung vom Joint sowie zu einer Verurteilung des Zionismus zu bewegen, fuhr Meyer nach Leipzig, Dresden und Erfurt, um die führenden DDR-Gemeindevertreter vor den drohenden Verfolgungen zu warnen. Günter Singer, Helmut Salo Looser, Leo Löwenkopf, Fritz Grunsfeld und Leo Eisenstädt flohen noch am gleichen Tag nach Westberlin. Andere Gemeindemitglieder folgten. In einer Atmosphäre der antisemitischen Hetze in den Medien und unter dem Eindruck polizeilicher Durchsuchungen von Gemeindebüros sowie willkürlicher Maßnahmen örtlicher Behörden gegen anerkannte Verfolgungsopfer setzte sich die Fluchtwelle bis in den Herbst 1953 fort.

Von den Verdächtigungen und Verfolgungen waren auch Partei- und Staatsfunktionäre jüdischer Herkunft betroffen, die keinen Kontakt zur Gemeinde unterhielten. In Leipzig wurde im November 1952 in Zusammenhang mit dem Slánský-Prozess der Chefredakteur der „Leipziger Volkszeitung“ Hans Schrecker verhaftet. Obwohl nach Stalins Tod im März 1953 die antisemitische Kampagne in der DDR ziemlich abrupt endete, und der vorbereitete Schauprozess, für den Schrecker als Angeklagter vorgesehen war, nicht mehr stattfand, blieb er in Haft. Im Februar 1954 wurde er wegen „Propaganda für den Militarismus“ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt und erst 1956 begnadigt.

Zerfall der Gemeinden

Die Ereignisse der Jahre 1948 bis 1953 und ihre Folgen prägten bis 1989 das Leben der Jüdinnen*Juden in der DDR. Die meisten Gemeinden hatten ihre Vorstände verloren, ihnen fehlten Rabbiner, Kantoren und Vorbeter. Die Zahl ihrer Mitglieder hatte sich dramatisch verringert, nicht nur aufgrund der Fluchtbewegungen. Viele SED-Mitglieder waren aus Angst vor Repressalien aus der Religionsgemeinschaft ausgetreten. In Berlin zerfiel die Gemeinde endgültig in einen Ost- und einen Westteil. Nach Stalins Tod gab es zwar keine gezielte antisemitische Verfolgung mehr, doch die geäußerten Vorwürfe und Verdächtigungen wurden offiziell niemals zurück­genommen und lebten unter­schwellig fort – als Angst auf der einen und als Ressentiment auf der anderen Seite.

Mit der erzwungenen Auflösung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, an deren Stelle das Zentralkomitee der SED ein „Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer“ installierte, hatten die überlebenden Jüdinnen*Juden ebenso wie viele andere Verfolgtengruppen keine politische Stimme mehr. Die jüdischen Gemeinden konnten diese Lücke nicht füllen, sie blieben im Wesentlichen auf die Ausübung des religiösen Kultus beschränkt.

Ihr Ansprechpartner, Kontrolleur und Zuwendungsgeber war das Staatssekretariat für Kirchenfragen, dessen Mitarbeiter bestrebt waren, Einfluss auf die Personalpolitik der Gemeinden zu nehmen. Der Staatsapparat stützte sich dabei ausgerechnet auf die verbliebenen SED-Mitglieder, die 1952/53 dem Druck nicht nachgegeben hatten und aus der Religionsgemeinschaft nicht ausgetreten waren. Zu ihnen gehörte der gebürtige Dresdner Helmut Aris, der aufgrund seiner Ehe mit einer nichtjüdischen Frau die Verfolgung in seiner Heimatstadt als Zwangsarbeiter überlebte. Nach der Flucht von Leon Löwenkopf leitete er zunächst die Jüdische Gemeinde Dresden und stand von 1962 bis zu seinem Tod 1987 dem Präsidium des Verbandes der Jüdischen Gemeinden DDR vor. Die Funktionäre des Staatssekretariats für Kirchenfragen schätzten Aris als loyalen Partner. Innerhalb des Gemeindeverbandes war er wegen dieser Haltung jedoch durchaus umstritten.
Aufgrund der geringen Zahl ihrer Mitglieder, aber vor allem wegen der gescheiterten Wiedergutmachung waren die jüdischen Gemeinden finanziell völlig abhängig von staatlichen Geldern. 

Die DDR-Erinnerungspolitik

In den offiziellen Gedenkveranstaltungen spielte das Thema der Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen*Juden bis etwa zur Mitte der 1980er-Jahre nur eine geringe Rolle; im Zentrum der staatlichen Erinnerungspolitik stand der kommunistische Widerstand. Dabei waren die nationalsozialistischen Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern kein Tabu-Thema. In den Schulbüchern waren Fotos der Leichenberge von Bergen-Belsen abgebildet, der massenhafte Mord in den Gaskammern wurde benannt, allerdings weitgehend ohne auf den antisemitischen Hintergrund einzugehen. Stattdessen wurden die Opfer allgemein als „Häftlinge aus allen Ländern Europas“ bezeichnet oder sie wurden ebenso pauschal dem Widerstand zugeschrieben. [2]

Das Gedenken an den 9. November 1938 blieb viele Jahre lang vornehmlich auf Veranstaltungen innerhalb der jüdischen Gemeinden beschränkt, meist begleitet von einer kurzen Zeitungsnotiz mit einer Grußbotschaft des SED-Zentralkomitees. In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre jedoch kündigten sich Veränderungen dieses eingespielten Rituals an, deren Höhepunkt schließlich im Jahr 1988 der große offizielle Gedenkaufwand anlässlich des 50. Jahrestags des Pogroms bildete: Die Mitglieder des SED-Politbüros, alle mit Kippot auf den Köpfen, umringt von Fernsehkameras und Blitzlichtern legten Kränze auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee nieder, um am folgenden Tag den symbolischen Grundstein für den Wiederaufbau der zerstörten Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in die Erde zu senken.

Ohne Zweifel standen hinter dieser Wende vor allem außenpolitische und ökonomische Interessen im Hinblick auf die Beziehungen der DDR zu den USA. Doch die Staats- und Parteiführung reagierte damit auch auf eine sich verändernde Situation im Innern, wo engagierte Vertreter*innen einer in der DDR aufgewachsenen Generation die antifaschistische Erziehung ernst nahmen und die Ignoranz und Achtlosigkeit gegenüber den Spuren einstigen jüdischen Lebens in ihrem Umfeld nicht mehr hinnehmen wollten. Ihre Initiativen, um zerstörte und verwahrloste Begräbnisstätten wiederherzurichten und/oder lokale jüdische Geschichte zu erforschen, trafen plötzlich in den Behörden auf Interesse und wurden sogar gefördert.

Jenseits der Schmalspur der staatlichen Erinnerungspolitik gab es in der DDR allerdings bereits lange vor dem späten Kurswechsel der 1980er-Jahre viele andere Zugänge zur Geschichte des Holocaust. Die Rede ist von Romanen, auto­biografischen Berichten, Theaterstücken und Filmen. Exemplarisch sei hier Die Ermittlung von Peter Weiß erwähnt, eine dokumentarische Bühnencollage über den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt/Main, die am 19. Oktober 1965 in einer Ring-Uraufführung gleichzeitig in fünfzehn west- und ostdeutschen Theatern uraufgeführt wurde. Der weitgehend auto­biografische Roman Die Bilder des Zeugen Schattmann des Schriftstellers und Auschwitz-Überlebenden Peter Edel erschien 1969 und lief einige Jahre später auch als Mehrteiler im Fernsehen. 1975 kam der Film Jakob der Lügner (Buch Jurek Becker, Regie Frank Beyer) in die Kinos und wurde zwei Jahre später sogar für einen Oscar nominiert.

Jüdischsein jenseits der Gemeinden

Ein Text über Jüdinnen*Juden in der DDR kann sich nicht auf die Mitglieder der jüdischen Gemeinden beschränken, sondern muss den Blick ebenso auf die weitaus größere Gruppe der Holocaust-Überlebenden richten, die aus jüdischen Familien stammten, sich jedoch von der Religion und Tradition ihrer Vorfahren entfernt hatten. Viele von ihnen hatten sich bereits vor 1933 der Arbeiterbewegung angeschlossen und waren Mitglieder der KPD geworden. Ihre Loyalität galt der Sowjetischen Besatzungsmacht und der Kommunistischen Partei, in deren Machtbereich sie auf gute Lebens- und Arbeitsbedingungen hoffen konnten.

Sie waren Schriftsteller*innen, Schauspieler*innen und Regisseur*innen, Sänger*innen, Komponist*innen und bildende Künstler*innen. Sie übernahmen die Leitung neugegründeter Verlage, Rundfunkanstalten und Zeitungen, wurden auf Lehrstühle an den Universitäten berufen, wurden Betriebsdirektor*innen oder hatten Funktionen im Partei- und Staatsapparat inne.

Während der Phase der stalinistischen Säuberungen hatten viele von ihnen Vorwürfe, Verdächtigungen und zumindest berufliche Zurücksetzungen hingenommen. Und vielleicht war es gerade die Erfahrung der eigenen Verfolgung während der NS-Zeit, die Trauer um die ermordeten Angehörigen, die sie auf wenig bewusste Weise an das sozialistische Projekt banden. Mit ihrer Kreativität, der fachlichen Kompetenz und Weltläufigkeit spielten diese Frauen und Männer eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau des kulturellen Lebens und neuer politischer Strukturen. Zu den Bekanntesten unter ihnen gehörten Anna Seghers, Lea Grundig, Arnold Zweig, Alfred Kantorowicz, Stefan Hermlin, Ernst-Herrmann Meyer, Alexander Abusch, Albert Norden, die Brüder Hanns und Gerhart Eisler.

Als eine Ausnahme-Persönlichkeit galt Jürgen Kuczynski, der sich ebenso als Wissenschaftler wie als Parteisoldat verstand. Nach drei Jahren illegaler Arbeit für die KPD in Deutschland war er 1936 nach Großbritannien emigriert und kehrte 1945 in der Uniform eines Obersten der US-Armee nach Berlin zurück. Einige Jahre später gehörte er zu den Gründern der Akademie der Wissen­schaften. Das von ihm geleitete Institut für Wirtschafts­geschichte war ein Ort, an dem für die Verhältnisse in der DDR relativ frei geforscht werden konnte. Der international angesehene Wissenschaftler gehörte zu den Beratern von Erich Honecker. In der gelenkten DDR-Öffentlichkeit trat er immer wieder mit undogmatischen Ideen und ungewöhnlichen Initiativen hervor. Als er 1992 eine Art Ergänzungsband zu seiner Autobiographie veröffentlichte, gab er ihm den hellsichtigen Titel: „Ein linientreuer Dissident“.

Eine andere Ausnahme-Persönlichkeit war die Sängerin und Tänzerin Lin Jaldati; aufgewachsen in einer armen jüdischen Familie in Amsterdam, wurde sie 1936 Mitglied der Kommunistischen Partei der Niederlande. Die Über­lebende von Auschwitz und Bergen-Belsen siedelte 1952 zusammen mit ihrem Ehemann, dem Pianisten und deutschen Emigranten Eberhard Rebling, in die DDR über. Dort war sie bis in die 1980er-Jahre hinein die einzige Künstlerin, die mit großem Erfolg jiddische Lieder sang.

Haltungen zu Israel

Die SED-Führung zählte eigentlich nur Mitglieder der Gemeinden als Jüdinnen*Juden. Aber zu bestimmten Anlässen bediente sie sich für ihre Propagandazwecke auch der jüdischen Herkunft der vielen „anderen“. Zum Beispiel 1961, als die aus jüdischen Familien stammenden Journalisten Max Kahane, Gerhard Leo und Kurt Goldstein als Sonderkorrespondenten zum Eichmann-Prozess nach Jerusalem entsandt wurden, mit dem speziellen Auftrag, auf die NS-Vergangenheit des Bonner Staatssekretärs Hans Globke aufmerksam zu machen.

Im Juni 1967, einen Tag nach dem Beginn des Sechs-Tage­Krieges zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten, beschloss das SED-Politbüro – vermutlich, um möglichen Antisemitismus-Vorwürfen vorzubeugen – „Stellungnahmen von jüdischen DDR-Bürgern zu veröffentlichen, in denen sie ihre Empörung über die Israel-Aggression und das Komplott Israel-Washington-Bonn zum Ausdruck bringen“ sollten.[3] Doch wie der damit beauftragte Albert Norden irritiert (oder empört?) an Walter Ulbricht berichtete, lehnten zahlreiche der Angesprochenen ein solches Ansinnen ab. Zu ihnen gehörte Lin Jaldati. Auch die Schriftsteller Arnold Zweig und Peter Edel verweigerten sich, ebenso wie der Präsident des Verbandes Jüdischer Gemeinden Helmut Aris, der ansonsten für seine loyale Haltung gegenüber der Staatsmacht bekannt war.

Letztlich gehörte keiner der Unterzeichner der am 9. Juni 1967 im Neuen Deutschland publizierten Erklärung einer jüdischen Gemeinde an. Allerdings wandten sich Gemeindefunktionäre vor allem im Verlauf der 1980er-Jahre zunehmend selbstbewusst gegen antisemitische Entgleisungen in der DDR-Berichterstattung über Israel und den Nahost-Konflikt. Als beispielsweise die Kinderzeitschrift „ABC-Zeitung“ 1984 eine Geschichte veröffentlichte, in der der kleine „Feuerdrachen Zion“ zunächst von den palästinensischen Kindern gefüttert wurde, um ihnen anschließend alles Lebensnotwendige zu rauben, protestierte die Berliner Jüdische Gemeinde bei der Redaktion. Bei Gesprächen im Staatssekretariat für Kirchenfragen beschwerte Helmut Aris sich wiederholt über antisemitische Klischees, die in den DDR-Medien im Zusammenhang mit Israel verwendet wurden. Der Leipziger Gemeindevorsitzende Eugen Gollomb schrieb Leserbriefe an Zeitungen und Zeitschriften, die in ihren Artikeln oder Karikaturen etwa die israelische Armee und die SS gleichsetzten.

Die israel­feindliche Politik der DDR hatte zur Folge, dass den jüdischen Gemeinden der Kontakt zu internationalen jüdischen Verbänden weitgehend versperrt blieb.

Erst 1986 durften Abgesandte des Dachverbandes zum ersten Mal eine Tagung des Jüdischen Weltkongresses in Jerusalem besuchen. Schon zuvor hatten die jüdischen Gemeinden nach Jahren eines eher abgeschotteten Daseins begonnen, ihre Fühler ins „innere Außen“, das heißt, in die DDR-Gesellschaft zu strecken. In Berlin und Leipzig luden sie seit Beginn der 1980er-Jahre regelmäßig zu Konzerten, Lesungen und Vorträgen ein. Etwa zur gleichen Zeit gründeten sich in einigen größeren Städten Arbeitsgemeinschaften für christlich-jüdischen Dialog. Mitglieder der „Aktion Sühnezeichen“ leisteten Arbeitseinsätze auf jüdischen Friedhöfen. Gemeindevertreter erhielten die Möglichkeit, bei kirchlichen Veranstaltungen aufzutreten.

Nachwuchs für die Gemeinden?

In den 1980er-Jahren zählten die jüdischen Gemeinden der DDR insgesamt noch etwa 400 Mitglieder. Knapp 200 davon gehörten zur Ostberliner Gemeinde. Der dortige Vorstand unter der Leitung von Dr. Peter Kirchner unternahm im Jahr 1986 einen ungewöhnlichen Schritt, um den Prozess der Überalterung und Schrumpfung zu stoppen. Er lud viele der mittlerweile erwachsenen „Kinder“ aus den säkularen jüdisch-kommunistischen Familien zu einer Veranstaltung in die Gemeinde ein. Die Resonanz war beeindruckend. Die Initiative traf auf ein gewachsenes Interesse seitens der zweiten Generation, mehr über die eigenen Wurzeln zu erfahren, über Wertvorstellungen, Traditionen und Rituale, von denen sich ihre Eltern oder Großeltern bereits vor langer Zeit abgewandt hatten. Es bildete sich die Gruppe „Wir für uns“, deren Mitglieder durchaus an Gottesdiensten, Festen oder am Hebräisch-Unterricht teilnahmen; doch nur ein kleiner Teil von ihnen entschloss sich in den folgenden Jahren zu einem Eintritt in die Gemeinde. Die Mehrheit wünschte sich eher einen losen Zusammenhalt, Diskussionen, Vorträge, kulturelle Veranstaltungen – im Grunde so etwas wie einen Jüdischen Kulturverein. Der durfte sich jedoch erst im Jahr 1990 gründen. Da war die DDR schon fast am Ende.


Dieser Text ist eine leicht gekürzte Fassung ihres Beitrags im Ausstellungs­katalog „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR“.

[1] Deutsche Volkszeitung, 1.7.1945, zit. nach Elke Reuter/Detlef Hansel: Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953, Berlin 1997, S. 80f. Vermutlich handelt es sich um ein Zitat von Ottomar Geschke, des ersten Vorsitzenden des Berliner OdF-Hauptausschusses und späterem Vorsitzenden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.

[2] Vgl. Stefan Küchler: DDR-Geschichtsbilder. Zur Interpretation des Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht der DDR, in: Internationale Schulbuchforschung 1(2000), Bd. 22, S. 42-44.

[3] Protokoll Nr. 7/67 der Politbürositzung am 7.6.1967, Anlage 1; SAPMO, DY 30/J IV2/2/1 117, zit. nach Ulrike Offenberg: „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR 1945 bis 1990, Berlin 1998, S. 201


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de

  • 1Displaced Persons: Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg außerhalb ihres Herkunftslandes gestrandet waren, darunter in westlichen Besatzungszonen ca. eine Viertelmillion Jüdinnen*Juden