Zwischen Konfrontation und Kooperation: Die Coronakrise und die internationale Ordnung

Analyse

Die Coronakrise trifft auf eine internationale Ordnung, die bereits erste Anzeichen einer neuen Großmächtekonkurrenz trägt. Corona könnte diesen Trend vertiefen, aber auch die internationale Kooperation wiederbeleben. Zwischen diesen Extremszenarien zeichnet sich eine neue internationale Ordnung ab, bei der die Demokratien weltweit enger zusammenrücken mit dem Ziel, autokratische Macht- und Gestaltungsansprüche zurückzudrängen. Eine geopolitische Analyse von Dr. Ulrich Speck.

Einleitung: Dimensionen der Krise

Die Krisen der letzten Jahre waren in ihrer Dimension begrenzt: Die breite Bevölkerung hat die Finanzkrise oder die Flüchtlingskrise nicht direkt erlebt, sondern nur indirekt wirtschaftliche oder politische Folgen gespürt. Die Coronakrise ist anders: sie wird unmittelbar erlebt und erlitten, greift tief in das Alltagsleben ein, überall auf der Welt. Und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht: So lange es keinen Impfstoff und keine medikamentöse Therapie gibt — vermutlich mindestens ein Jahr lang —, wird das Virus wohl in immer neuen Wellen zuschlagen. Überall in der Welt werden Menschen sich durch soziale Distanzierung und Hygienemaßnahmen versuchen zu schützen, und überall werden Staaten sich darum bemühen, durch Lockdowns, durch Testen und Isolieren das Virus einzudämmen.

Weil die Coronakrise so sehr in die Breite und Tiefe wirkt, wird sie neue Dynamiken in Bewegung setzen, innerhalb von Staaten, aber auch in der internationalen Politik.

Wie massiv der Einschnitt durch die Krise werden wird, hängt vor allem davon ab, ob es gelingt, das Virus zumindest weitgehend einzudämmen — oder ob SARS-CoV-2 noch erheblich stärker zuschlagen wird: einerseits in den globalen Zentren, zum anderen aber auch in den peripheren Regionen, wo schwache Staaten und nur rudimentäre Gesundheitssysteme eine Virusabwehr kaum erfolgreich betreiben können.

In diesem Policy Paper wird von einem eher pessimistischen Ansatz ausgegangen:  erstens, dass wir in Asien, Europa und den USA bislang nur die erste Welle gesehen haben, und dass noch weitere Wellen folgen werden; und zweitens, dass sich das Virus global weiter verbreitet, von den Zentren bis tief in die Peripherie.

Dabei vertiefen sich zwei oder drei ineinander verschränkte Krisen: zum einen die unmittelbare Gesundheitskrise, also die Abwehr gegen das Virus, zum anderen die Wirtschaftskrise, die eine Folge der Unterbrechung der Produktion, der Lieferketten und des Konsums ist. Aus beidem kann sich eine Krise der Politik und des Staates entwickeln, wenn Regierungen sich als unfähig erweisen, die vielfältigen Dimensionen der Krise in den Griff zu bekommen und deshalb das Vertrauen der Bevölkerung verlieren.

Wenn politische Meinungen und Einstellungen umschlagen, wenn sich das politische und wirtschaftliche Leben in den Staaten sehr schnell ändert, dann hat dies auch Folgen für die internationale Politik und Ordnung.

In diesem Paper wird der noch sehr vorläufige Versuch unternommen, mögliche Folgen der Coronakrise für die internationale Ordnung auszuloten. In einem ersten Schritt wird die Gestalt dieser Ordnung am Ausgangspunkt, vor der Coronakrise, beschrieben. In einem zweiten Schritt dann werden in zwei Szenarien mögliche gesellschaftliche und politische Verarbeitungsweisen der Coronakrise skizziert. Im dritten Schritt dann wird darüber nachgedacht, wie solche Verarbeitungsweisen die Gestalt der internationalen Ordnung verändern könnten.

Ausgangspunkt: Konkurrenz der Großmächte

In welcher Konfiguration ist die internationale Ordnung in die Coronakrise eingetreten? Seit einigen Jahren prägt das Paradigma „Großmachtkonkurrenz“ das strategische Denken und Handeln in den Hauptstädten — in Moskau und Peking, in Washington und Paris. Nach einer Phase der Pax Americana, der unbestrittenen Vorherrschaft Amerikas, verbunden mit dem Sieg von Demokratie, Marktwirtschaft und „liberaler internationaler Ordnung“ im Gefolge von 1989, ist die Welt wieder in den Zustand einer Konkurrenz eingetreten, mit China, den USA und Russland als zentralen Playern.

Dabei gibt es zwei Varianten. Die eine Variante, wie sie insbesondere in Moskau und Peking vertreten wird — aber auch bei US Präsident Trump immer wieder anklingt —  orientiert sich an klassischer „realistischer“ Machtpolitik: Die internationale Politik ist geprägt vom Konflikt der großen Mächte, die zum Selbsterhalt und Machtgewinn um (globale) Ressourcen konkurrieren — und dabei schwächere Staaten und Regionen zum Schlachtfeld ihrer Konkurrenz machen, im Kampf um Einflusszonen und strategische Tiefe. Diesem Ansatz zufolge sind internationale Regeln und Institutionen nicht mehr als Instrumente dieses Machtkampfs, und der Schlüssel zum Erfolg ist die Verfügung über militärische Stärke.

Die zweite, die „liberale“ Variante des Paradigmas „Großmachtkonkurrenz“ hingegen sieht die wachsenden Spannungen zwischen China und Russland einerseits und den USA und (teilweise) Europa auf der anderen Seite nicht im Machtstreben der Großmächte begründet, sondern führt sie auf den Gegensatz ihrer Herrschaftsordnungen zurück: auf der einen Seite autokratische Mächte, deren Außenpolitik vor allem dem Ziel dient, ihre illegitime, weil undemokratische Herrschaft zu Hause abzuschirmen, durch eine nach außen gewandte, offensive Strategie — „to make the world safe for autocracy“. Auf der anderen Seite, idealtypisch zugespitzt, die „freie Welt“ mit ihrer „liberalen internationalen Ordnung“, bei der sich Staaten weitgehend freiwillig assoziieren, um gemeinsame Ziele zu verfolgen.

Einig sind sich beide Denkansätze zumindest darin, dass es einen neuen Wettbewerb gibt, und dass Machtpolitik dabei eine Schlüsselrolle spielt. Das neue Paradigma der Konkurrenz der Großmächte ersetzt beziehungsweise überlagert das „Globalisierungs“-Paradigma, das Theorie und Praxis seit den 1990ern dominiert hat: die Vorstellung einer „liberalen“ internationale Ordnung, abgesichert durch die „Pax Americana“, also amerikanische Macht und Stärke, welche es den Staaten ermöglicht, sich vertrauensvoll wechselseitig zu öffnen und wachsende Interdependenz und Arbeitsteilung zu akzeptieren, ja zu befürworten. Weil alle Länder sich in Richtung ökonomische und politische Liberalisierung bewegen, entwickelt sich eine Weltwirtschaft und eine Weltgesellschaft, die in wachsendem Maße ergänzt wird durch „global governance“: ein vielgestaltiges Geflecht aus internationalen und transnationalen Institutionen, Bewegungen und Aktivitäten, aus dem sich schließlich so etwas wie Weltpolitik entwickelt.

Der Paradigmenwechsel von Globalisierung zu Großmachtkonkurrenz in den letzten Jahren ist weitgehend eine Reaktion auf die Tatsache, dass sich Russland und China nicht in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft transformiert haben — dass die Machthaber in Moskau und Peking diese Vision instrumentell benutzt haben, sie in der Substanz aber nicht teilen. Nach dem Schock des Umbruchs von 1989 haben die herrschenden Eliten in Russland und China ihre Systeme modernisiert, aber nicht liberalisiert: mit der sehr selektiven Übernahme von Elementen der Marktwirtschaft sowie mit neuen, technologisch versierten Instrumenten der Repression und Propaganda.

Diese innere Erneuerung autokratischer Machtstaaten ist in den letzten Jahren ergänzt worden durch einen außenpolitischen Aufbruch, der die liberalen Werte der Freiheit und Gleichheit offensiv in Frage stellt und stattdessen auf den Aufbau von Einflusszonen, abgesichert mit militärischen Mitteln, abzielt, sowie auf die direkte Instrumentalisierung von internationalen Institutionen für die eigene Machterweiterung. Was man innenpolitisch erprobt hat, an Instrumenten der Herrschaftssicherung, wird jetzt gewissermaßen nach außen gewendet. Damit ist aber die These von der Konvergenz der Systeme — der quasi automatischen Transformation hin zur liberalen Ordnung nach 1989 — widerlegt.

Zugleich sind in den USA die Zweifel daran gestiegen, ob das Land die ihm nach 1989 zugewachsene globale Rolle ausfüllen kann — und will. Die Kosten dafür sind gestiegen: durch den „Krieg gegen den Terror“, mit dem das Land auf den Schock des 11. September 2001 reagiert hat; durch die neuen, aggressiven und offensiven Strategien Russlands und Chinas; durch den — aus amerikanischer Sicht — Unwillen von Alliierten, dieses kostspielige Engagement mitzutragen. Der Erfolg Trumps hängt auch mit solchen Diagnosen und Stimmungen zusammen.

Wie könnte sich nun die Coronakrise auf diese Konstellation auswirken? In welcher Weise könnte die Pandemie die internationale Ordnung verändern? Um dieser Frage näher nachzugehen, werden im Folgenden zunächst zwei Szenarien entworfen, in sehr groben Umrissen — noch sind wir an einem sehr frühen Zeitpunkt der Krise.

Szenario 1: Konfrontation

Das Coronavirus verbreitet sich weiter, Wellen der Ansteckung verschärfen die wirtschaftliche Krise, es setzt sich eine „Rette sich wer kann“-Stimmung durch. Gesellschaften polarisieren sich zwischen denjenigen, die auf „Durchseuchung“ setzen, mit der Hoffnung auf ungewisse Immunität, und denjenigen, die Ansteckung minimieren wollen durch Hygiene und Kontaktbeschränkung, und eher bereit sind, einen höheren wirtschaftlichen Preis dafür in Kauf zu nehmen.

Insgesamt setzt sich die Lockerung durch, und es steigen die Zahlen an Infizierten und Todesfällen erheblich an. Gesundheitssysteme geraten an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit oder kollabieren. Institutionen, Parteien und Regierungen verlieren erheblich an Vertrauen; weil der Staat seine Schutzfunktion offenkundig nicht wahrnimmt, ist Selbsthilfe das Gebot der Stunde. Weil keiner genau weiß, ob er oder sie zur Risikogruppe gehört, weil Informationen der Regierung misstraut wird, isolieren und distanzieren sich viele Menschen auf eigene Faust. Wohlhabende sind eher in der Lage, sich abzuschirmen; auch das erhöht die Kluft in Gesellschaften, insbesondere solchen, bei denen die soziale Ungleichheit bereits hoch ist.

Die Lehre, die Gesellschaften aus dieser Erfahrung ziehen, ist, dass es auf Selbsthilfe, Selbstschutz, Abschirmung, Wettbewerb um knapper werdende Ressourcen ankommt, dass man in der Krise weder auf den Staat noch den Nachbarn zählen kann. Im Kampf aller gegen alle ist Interdependenz und Offenheit nicht Stärke, sondern Schwäche: sicher ist man nur, wenn man größtmögliche Autonomie und Autarkie anstrebt.

In diesem Szenario von gesellschaftlicher Radikalisierung und Desintegration, von verschärfter Konkurrenz und Konfrontation wird der Staat massiv geschwächt, weil er nicht in der Lage ist, die Bürger effektiv zu schützen und öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Schwache Staaten würden weiter geschwächt und könnten zu failed states werden, insbesondere in fragilen Regionen Afrikas. In fähigeren, aber potentiell instabilen Staaten könnten sich politische Bewegungen radikalisieren; Regierungen und Regime könnten fallen, etwa in Russland oder in der MENA-Region (Middle East & North Africa – Nahost und Nordafrika).

Die Aufmerksamkeit politischer Führung in einem solchen Szenario wäre ganz auf die Bewältigung der vielfältigen Krisen im eigenen Land fokussiert; für Fragen der internationalen Ordnung und Zusammenarbeit wäre kaum noch Zeit und Energie vorhanden. Staaten müssten alle ihre (ohnehin verringerten) Ressourcen dafür aufwenden, die nationale Spaltung zu überwinden, Radikalisierung entgegenzutreten, die Kapazitäten des Staates aufrechtzuerhalten, und vor allem die Wirtschaft auf Trab zu halten beziehungsweise wieder in Gang zu bringen. Ausgaben für Gesundheit und Soziales würden massiv steigen.

Die wahrscheinlichste Folge einer solchen Entwicklung wäre internationale Anarchie — gewissermaßen die Verwahrlosung des internationalen Raumes. Weder Autokratien noch Demokratien würden sich außen- und sicherheitspolitisch noch nennenswert engagieren; die Bereiche Verteidigung, Außenpolitik und Entwicklungshilfe würden ihre Etats massiv zusammengestrichen sehen zugunsten von Gesundheit und Sozialem. Ansätze zu globaler Governance, also gemeinsamem, koordinierten Handeln zur Bewältigung globaler Probleme wie Klimaerwärmung, würden auf der Agenda der Staaten weit nach unten rutschen oder ganz verschwinden.

Einige Regierungen, insbesondere solche mit schwacher Legitimation zu Hause, könnten aber auch die Flucht nach vorne antreten und darauf setzen, von den eigenen Schwierigkeiten durch aggressive Aktionen nach außen abzulenken. China zeigt solche Tendenzen, mit fortgesetzter Macht- und Einflusspolitik im Südchinesischen Meer und einem harten Kurs gegenüber Hongkong. Auch ein sich in die Defensive gedrängt fühlender Putin könnte sich zu einem weiteren außenpolitischen Abenteuer entschließen, das Russland hinter sich einen soll.

Szenario 2: Kooperation

Das zweite Szenario geht davon aus, dass sich in Gesellschaften ein solidarischer Ansatz zur Bewältigung der Coronakrise durchsetzt. Statt des eher sozialdarwinistischen Ansatzes, der vergleichsweise hohe Todesraten akzeptiert, dominiert insgesamt ein solidarischer Ansatz, der auf die Eindämmung des Coronavirus abzielt. Auch wenn das Risiko für Gesunde und Jüngere, an der Pandemie zu sterben, vergleichsweise niedrig ist, bleibt die Bereitschaft aller, die Ansteckung durch Hygienemaßnahmen und physische Distanzierung zu minimieren, insgesamt hoch — getragen von einer solidarischen Gesamtstimmung innerhalb von Gesellschaften („Wir sitzen alle in einem Boot“) und von der Auffassung, dass die Gesamtkosten der Pandemie durch Eindämmung niedriger sind als bei einem Laisser-faire-Ansatz.

Der solidarische Ansatz innerhalb von Gesellschaften führt auch zur intensiven Zusammenarbeit über Staatsgrenzen hinweg. Internationale Kooperation bei der Bekämpfung des Virus wird als zentral angesehen: Austausch von Information und Erfahrungen zur Coronavirus-Bekämpfung zwischen Politik und Verwaltung; weltweite, von Staaten geförderte Zusammenarbeit der „scientific community“ bei der Erforschung von Covid-19 und der Entwicklung von medikamentöser Therapie und eines Impfstoffs.

Nicht nur bei der Bewältigung der Gesundheitskrise, auch bei der Überwindung der massiven Wirtschaftskrise wird in diesem Szenario internationale Zusammenarbeit als Schlüssel zum Erfolg gesehen: die globale Arbeitsteilung mit ihren komplexen Lieferketten und zunehmender just-in-time-Produktion schafft zwar wechselseitige Abhängigkeit, zum anderen aber erhöht sie Effizienz und sorgt dafür, dass die Produkte für die Masse der Verbraucher erschwinglich bleiben. Zwar spielt der Gedanke der Resilienz auch in diesem Szenario eine Rolle, zwar wird Vorratshaltung und die eigene Fähigkeit der Staaten zur Produktion auch wichtiger, ebenso wie die Verringerung von einseitigen Abhängigkeiten. All dies wirkt sich aber vor allem auf wenige, essentielle Bereiche wie Pharma- und Gesundheitsprodukte aus.

Auch wenn in diesem Paradigma/Szenario Staaten ebenfalls geschwächt würden, so würden sie anders mit dieser Schwäche umgehen: das Ziel würde sein, wechselseitige Abhängigkeit nicht abzuschaffen, sondern sie besser zu managen, um die Schattenseiten der Globalisierung zu verringern und die Vorteile und Chancen der Offenheit weiter nutzen zu können.

Die Coronakrise und die Dynamik des internationalen Systems

Würde sich das Konflikt-Szenario durchsetzen, dann würde damit auf internationaler Ebene das Paradigma der klassischen Machtpolitik gestärkt werden: die Vorstellung, dass Staaten sich in einem permanenten Kampf um Vorherrschaft befinden, dass keiner dem anderen trauen kann, dass jeder seine Machtbasis sichern und vergrößern und sich permanent auf Konflikte bis hin zum Krieg hin vorbereiten muss.

Größere Mächte würden sich verstärkt um nationale politische Autonomie und wirtschaftliche Autarkie bemühen, das Vertrauen in internationale Kooperation —in internationale Abstimmungsprozesse, in Vereinbarungen und in Institutionen —, würde weiter sinken. Die Konkurrenz würde zunehmen, und weniger mächtige Staaten würden noch mehr als bisher als mögliche Beute und Verfügungsmasse der wenigen wahrhaft souveränen großen Mächte gesehen. Eine darwinistische, zynische Sicht internationaler Politik würde weiter an Boden gewinnen.

Es ist dies ein Ansatz, der das politische Denken in Moskau seit vielen Jahren prägt, und der auch in Peking seit einigen Jahren klar dominiert: Internationale Politik als Synonym nicht für globale Zusammenarbeit zur Lösung gemeinsamer Probleme, sondern als Kampf um Selbstbehauptung und Vorherrschaft.

In den USA hingegen wurde klassische Machtpolitik immer balanciert mit einem liberalen Ansatz: der Zielsetzung einer „liberalen internationalen Ordnung“, die auf Institutionen, Regeln, Werte setzt und andere Länder für eine freiheitliche Ordnung als Partner gewinnen will: Assoziation statt Unterwerfung.

Mit Trump ist diese Balance in Frage gestellt; sein „America first“-Ansatz ähnelt in vielen Aspekten der Art von ruchloser Machtpolitik, wie sie seit einigen Jahren von Russland und China betrieben werden. Mit einer Wiederwahl Trumps im November diesen Jahres würden solche Tendenzen noch stärker in amerikanischer Außenpolitik zum Vorschein kommen. Moskau, Peking und Washington wären dann zumindest tendenziell im Gleichklang im Hinblick auf ihre Auffassung von internationalem System und internationaler Ordnung.

Europa hingegen würde damit noch stärker in die Bredouille kommen. Die EU ist gleichsam Inkarnation der liberalen Ordnung, und die wechselseitige, auf Vertrauen basierte Öffnung der europäischen Staaten wurde über Jahrzehnte getragen und ermöglicht durch die Präsenz der USA, die die europäische Sicherheitsordnung gestaltete und garantierte. In einer rein auf Machtpolitik hin ausgerichteten Konkurrenz der Großmächte würde diese europäische Ordnung noch stärker unter Druck geraten.

Für Europa wäre es weitaus günstiger, wenn sich das zweite Szenario durchsetzen würde: Eine solidarische, auf Kooperation beruhende Antwort auf die Herausforderungen der Coronakrise. Damit würde zum einen das Beziehungsgeflecht der EU-Staaten, die wechselseitige Öffnung und Bereitschaft zur Zusammenarbeit, gestärkt. Zum anderen würde die internationale Ordnung Europa weniger unter Druck setzen. Dabei sind zwei Varianten denkbar.

Einerseits wäre vorstellbar, dass als Antwort auf die Coronakrise globalistische Impulse und Denkweisen gestärkt werden, und damit auch Globalisierung und Ansätze zu einer global governance. Ähnlich wie bei Fragen der Ökologie, des Klima- und Umweltschutzes, könnte auch die globale Pandemie im Westen zu der Überzeugung führen, dass es weltweite Probleme gibt, die nur durch die Zusammenarbeit aller Staaten gelöst werden können — auch über Systemgrenzen hinweg.

Dies könnte zusammentreffen mit einem Einlenken Russlands und Chinas in Fragen der machtpolitischen Konkurrenz mit dem Westen. Falls beide Mächte durch die Gesundheits- und Wirtschaftskrise schwer getroffen werden, könnte dies zu der Einsicht führen, dass beide für ihr wirtschaftliches Wohlergehen — und damit auch für die Stabilität ihrer Regime — auf internationale Zusammenarbeit angewiesen sind, insbesondere im Bereich der Wirtschaft und Technologie. Das könnte dazu führen, dass beide weniger Konfliktbereitschaft in ihrer Nachbarschaft zeigen, und stärker auf Kooperation setzen.

Wahrscheinlich ist das allerdings nicht — wegen des Charakters der politischen Systeme in Russland und China. Die zunehmend aggressive Außenpolitik ist nicht nur eine Laune der Machthaber. Sie ist Folge eines Überlebenskampfes der autokratischen Eliten, die sich durch das Vordringen freiheitlicher Ideen und Prinzipien in Politik und Wirtschaft existenziell bedroht sehen. Was sie betreiben, ist eine Vorwärtsverteidigung: das Bemühen, Amerika zu schwächen, Europa zu neutralisieren, und möglichst viel Einfluss und Macht in ihrer direkten Nachbarschaft zu gewinnen. Dabei wenden sie diejenigen Instrumente, die sich im Inneren zum Machterhalt als erfolgreich erwiesen haben, auch nach außen hin an.

Weitaus wahrscheinlicher wäre, dass sich — im Rahmen des Kooperations-Szenarios —, eine liberale Variante der Großmachtkonkurrenz durchsetzt, nämlich eine zunehmende Spaltung und Teilung der Räume entlang der Systemgrenzen. Große asiatische Demokratien wie Japan und Indien, Europa und die USA würden ihre Abhängigkeiten insbesondere von China reduzieren und untereinander enger zusammenrücken. Die Globalisierung zwischen eher gleichgesinnten („like-minded“) Ländern würde intensiviert, die Distanz zu den großen autokratischen Mächten verstärkt.

Nicht zufällig hat der Präsidentschaftsbewerber der Demokraten, Joe Biden, in einem Aufsatz für „Foreign Affairs“ den kämpferischen Begriff der Free World wieder ins Spiel gebracht. In seiner weltpolitischen Vision rücken die demokratischen und marktwirtschaftlichen Länder enger zusammen, um sich im Systemwettbewerb mit autokratischen Ländern, insbesondere China und Russland, zu behaupten und durchzusetzen.

Dieser Entwurf ist ein weiterer Beleg für ein Umdenken im außenpolitischen Establishment in den USA. Nicht mehr „liberale internationale Ordnung“ steht als Paradigma im Vordergrund, sondern ein machtpolitischer Wettbewerb insbesondere mit China. Weil sich die Autokratie in Russland und China neu erfunden hat und jetzt der freiheitlichen Ordnung die Vorherrschaft streitig macht, so der Grundgedanke, muss die „freie Welt“ diesen Wettbewerb offensiv annehmen. Das bedeutet zum einen, politische und wirtschaftliche Freiheit ins Zentrum der außenpolitischen Vision zu setzen. Und es bedeutet zum anderen, die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnern und Alliierten zu suchen, um gemeinsam kritische Masse zu gewinnen und sich somit im Systemwettbewerb mit den autokratischen Herausforderern zu behaupten.

Eine erneuerte amerikanische Außenpolitik nach Trump würde, zumindest unter Biden, wieder stärker auf Partnerschaften und Allianzen setzen: in Asien, um Chinas ökonomischer Macht zu widerstehen, und in Europa, um Russlands militärischer Macht entgegenzutreten. Mit einem demokratischen Präsidenten würde Amerika auch wieder verstärkt in globale Institutionen und Kooperation investieren und sich darum bemühen, dort kritische Masse und Gestaltungsmacht zurückzugewinnen.

Fazit

Wenn man die Prämissen dieses Versuchs, Folgen der Coronakrise auf die internationale Ordnung abzuschätzen, akzeptiert, dann ergeben sich drei mögliche Dynamiken.

Erstens die Verstärkung der Tendenz in Richtung einer nationalistischen, auch darwinistischen Konkurrenz der Großmächte: weniger Kooperation, mehr Feindseligkeit, mehr Konflikte.

Zweitens die Rückbesinnung auf das Paradigma einer auf „win-win“-Lösungen ausgerichteten Globalisierung, bei der wirtschaftliche und politische Kooperation gestärkt werden, und zwar über die neuen Systemgrenzen zwischen Autokratie und liberaler Demokratie hinweg. Insbesondere China und die USA würden ihre Konkurrenz einfrieren und sich um Zusammenarbeit bemühen — in Anerkennung ihrer wechselseitigen ökonomischen Abhängigkeit, aber auch im Hinblick auf die Notwendigkeit, Pandemien und Klimawandel gemeinsam zu bekämpfen.

Drittens die Herausbildung einer neuen Ordnung nach dem Paradigma der „free world“, bei der Demokratien ihre Zusammenarbeit verstärken würden, um sich im Systemwettbewerb mit Autokratien zu behaupten und durchzusetzen. Die Öffnung und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Staaten des von den USA geführten freiheitlichen Blocks würde gefördert, aber zugleich die Konkurrenz mit China und Russland tendenziell verschärft.

Welche Dynamik sich durchsetzt, hängt von vielen Faktoren ab: wie wird die Coronakrise in Gesellschaften verarbeitet, wie verändert sie die Stimmung und die Haltung auch gegenüber internationalen Fragen? Welche Folgen hat sie für die Fähigkeiten und den Willen von Regierungen, sich international zu engagieren? Welche Länder gehen letzten Endes gestärkt, welche geschwächt aus der Krise hervor? Wird die Coronakrise zum Katalysator einer neuen Ordnung, führt sie zu mehr Chaos (die vielbeschworene „G-Zero world“), oder bestärkt sie nur bestehende Trends?

Von richtungsweisender Bedeutung wird die Präsidentschaftswahl in den USA im November sein. Wenn Donald Trump wiedergewählt wird, dann wird der internationale Ton noch härter, wird globale Zusammenarbeit erschwert, und werden autokratische Mächte wie China und Russland ermutigt, die von Amerika aufgegebene globale Führungsrolle zumindest teilweise zu übernehmen, was wiederum zu einer Verschärfung der Großmachtrivalität führt.

Wird auf der anderen Seite Joe Biden gewählt, dürfte die dritte Dynamik sich zumindest als Tendenz durchsetzen: Amerika als Führungsmacht einer „free world“, welche Globalisierung weiter verfolgt und die sich um internationale Kooperation bemüht, allerdings unter den Bedingungen eines verschärften Systemwettbewerbs mit den autokratischen Mächten China und Russland.

 

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