Ausnahmezustand in El Salvador

Kommentar

El Salvadors Präsident Nayib Bukele hat nach einer brutalen Mordserie mit 87 Todesopfern, die im Wesentlichen auf das Konto der berüchtigten Gang Mara Salvatrucha 13 (MS-13) gehen soll das Parlament angewiesen, für 30 Tage den Ausnahmezustand zu verhängen und verlängerte diesen bereits.

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Die Menschen werden auch nachts kontrolliert und durchsucht.

Militarisierung der Politik und Abbau der Demokratie

El Salvador befindet sich seit dem 27. März 2022 im Ausnahmezustand. Nach einer brutalen Mordserie mit 87 Todesopfern innerhalb von drei Tagen, die im Wesentlichen auf das Konto der berüchtigten Gang Mara Salvatrucha 13 (MS-13) gehen soll, hatte Präsident Nayib Bukele das Parlament angewiesen, für 30 Tage den Ausnahmezustand zu verhängen. Inzwischen wurde der Ausnahmezustand um einen weiteren Monat bis zum 27. Mai verlängert. Der Aufschub der Ausnahmebefugnisse wurde vom Minister für Justiz und Innere Sicherheit, Gustavo Villatoro, damit begründet, dass bis zum 24. April zwar bereits 16.500 Bandenmitglieder verhaftet worden seien, sich aber nach wie vor etwa 70.000 Kriminelle auf freiem Fuß befänden.

Gleichzeitig hat das salvadorianische Parlament zusätzliche Mittel für Polizei und Militär in Höhe von 80 Millionen US-Dollar genehmigt. Die Ausgaben für Sicherheit betrugen schon vor der Erhöhung 11 Prozent der salvadorianischen Regierungsausgaben (zentralamerikanisches Institut für Steuerstudien ICEFI) . Im Jahr 2021 gab das hoch verschuldete Land real 846 Millionen US-Dollar für „Sicherheit“ aus. 

Drastische Einschränkung von Grundrechten, Häftlinge ohne Rechtsschutz

Der Ausnahmezustand berechtigt die Regierung zur Einschränkung vier zentraler Grundrechte: des Rechts auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit; des Briefgeheimnisses und des Rechts der Unverletzlichkeit privater Kommunikation ohne vorherige richterliche Genehmigung; des Rechts, innerhalb von 72 Stunden nach Verhaftung einem Gericht vorgeführt zu werden und des Rechts, über die Gründe der Verhaftung informiert zu werden sowie einen Rechtsbeistand und einen fairen Prozess zu erhalten.

Zeitgleich mit der Einführung des Ausnahmezustands im März wurden acht Reformen – ohne jegliche parlamentarische Aussprache - durch den von Bukeles Partei Nuevas Ideas kontrollierten Kongress gepeitscht. Darin werden die bestehenden strafrechtlichen Mittel gegen Gangs, die bereits seit 2010 verboten sind, verschärft. So kann die Mitgliedschaft in Gangs zukünftig mit 20 bis 30 Jahren Haft bestraft werden, Anführern und Financiers drohen gar Haftstrafen von 40 bis 45 Jahren. Neu ist, dass nun auch Jugendliche ab zwölf Jahren zu Haftstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt werden können, Jugendlichen ab 16 Jahren bis zu zwanzig Jahren. Eine Person, die der Bandenmitgliedschaft beschuldigt wird, hat kein Anrecht darauf, nach zwei Jahren Untersuchungshaft entlassen zu werden, auch wenn keine Beweise für eine Straftat oder einen Freispruch vorliegen, sondern bleibt in Haft, bis alle Instanzen durchlaufen sind. Prozesse können auch in Abwesenheit der Beschuldigten durchgeführt werden, aus Sicherheitsgründen sollen Richter*innen außerdem das Recht auf Anonymität erhalten.

Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und Rechtsexpert*innen wiesen darauf hin, dass die im Eilverfahren verabschiedeten Reformen, vor allem im Falle minderjähriger Angeklagter, sowohl im Konflikt mit internationalen wie auch nationalen Normen stehen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) veröffentlichte eine Stellungnahme, in der sie die Regierung Bukele bittet, die erlassenen Strafrechtsreformen zu revidieren, die die Verhaftung und Gefängnisstrafen für Minderjährige legalisieren, da diese nicht im Einklang mit der UN-Kinderrechtsreform stünden. Bezweifelt wurde ferner die Notwendigkeit des Ausnahmezustands, da bereits bestehende strafrechtliche Instrumente dem Staat hinreichende Kompetenzen zur Verfolgung krimineller Banden erteilen.

Bis zum 2. Mai wurden laut Angaben der salvadorianischen Polizei, die über den offiziellen Twitter-Account veröffentlicht wurden, 22.754 Menschen festgenommen werden. Inzwischen häufen sich die Hinweise, dass es nicht nur zu einer Reihe von irrtümlichen Verhaftungen junger Männer kam, sondern zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Bei den Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Cristosal gingen bis Ende April Informationen  von über 160 willkürlichen Verhaftungen ein, sowie über brutale Gewalt gegen Inhaftierte. Nach Angaben der oppositionellen Kongressabgeordneten Claudia Ortiz sollen mindestens fünf Personen unter ungeklärten Umständen in Untersuchungshaft verstorben sein.

Bereits vor der jüngsten Verhaftungswelle waren die salvadorianischen Gefängnisse hoffnungslos überfüllt: Nach Angaben der nationalen Gefängnisverwaltung gab es im August 2021 39.147 Häftlinge im Land. Die Rate von 549 Häftlingen auf 100.000 Einwohner*innen wird in den Amerikas lediglich von den USA übertroffen. Bereits Anfang 2020 hatten die Bilder von zusammengepferchten, inhaftierten Bandenmitgliedern für weltweites Entsetzen gesorgt. In den vergangenen Wochen hat die Regierung erneut Bilder halbnackter tätowierter Männer veröffentlicht - mit dem Hinweis, dass der „Abschaum“ keine Menschenrechte besitze und den Häftlingen die Nahrung verweigert würde, wenn die Mordserie nicht abreiße. Regionale und internationale Menschenrechtsorganisationen, die ihre Sorge über die prekären Haftbedingungen zum Ausdruck bringen, werden pauschal als Sympathisierende der Gangs diffamiert. So twitterte etwa Präsident Bukele am 28. März: „Diese windigen Typen von den internationalen NGOs geben vor, die Menschenrechte zu verteidigen, interessieren sich aber nicht für die Opfer, sondern verteidigen nur die Mörder, so als ob sie die Blutbäder genießen würden“. Ein Großteil der Bevölkerung steht dem atavistischen strafrechtlichen Populismus jedoch durchaus positiv gegenüber. Laut einer Umfrage von Cid-Gallup vom April 2022 befürworten 91% der Befragten die gegen die Bandenmitglieder ergriffenen Maßnahmen.   

„Sprich nicht von Maras“: Ein Maulkorberlass für den „unbequemen“ Journalismus

Scharfe Kritik über die Landesgrenzen hinaus rief auch eine Reform hervor, die sowohl die Ausarbeitung und Verbreitung von Texten, Grafiken oder Graffiti unter Strafe stellt, die „Botschaften reproduzieren oder übertragen, die von Gangs oder angeblich von Gangs stammen und zu Angst oder Panik in der Bevölkerung führen können“. Präsident Bukele verglich die Maßnahme in einem Tweet mit dem Verbot von Nazi-Symbolen im deutschen Strafrecht, übersah hierbei jedoch, dass die Reform des salvadorianischen Gesetzes – anders als die deutsche Strafgesetzordnung - so vage und ambivalent formuliert ist, dass sie grundsätzlich jegliche Form der Berichterstattung über Maras unter Strafe stellen. Bis zu 15 Jahren Gefängnis drohen damit Journalist*innen, die über Maras informieren. Nach Ansicht der salvadorianischen Journalist*innenvereinigung APES handelt es sich dabei nicht um einen Formfehler, sondern um bewusste Zensur und einen Maulkorberlass. Die Reform soll in erster Linie die Berichtserstattung der unabhängigen Presse über Geheimverhandlungen der Regierung mit den Gangs unter Strafe stellen und verhindern, dass Informationen über die Freilassung von hochrangigen Bandenmitgliedern, deren Auslieferung US-amerikanische Gerichte fordern, publik wird.

Ähnlich kritisch wird auch die Aussetzung des Briefgeheimnisses und die Autorisierung von Abhörungen ohne Gerichtsbeschluss beurteilt. Bereits Anfang des Jahres war die Regierung Bukele in die Schlagzeilen geraten, nachdem bekannt geworden war, dass mehrere Dutzend Journalist*innen, insbesondere des Nachrichtenpools El Faro, mittels des Spionageprogramms Pegasus monatelang abgehört wurden. Die Regierung reagierte rasch: mit der Verabschiedung eines Gesetzes über „digitale Agent*innen“, dass die rechtswidrige Spionage im Nachhinein legalisierte.

 Journalist*innen werden als „Informationsterrorist*innen“ gebrandmarkt

Schon seit Langem war der Regierung Bukele die Berichterstattung des unabhängigen Journalist*innenteams von El Faro ein Dorn im Auge. Während die Regierung mit dem expliziten Versprechen angetreten war, das organisierte Verbrechen und die brutalen Gangs mittels einer Politik der harten Hand unter Kontrolle zu bekommen, hatte El Faro aufgedeckt, dass Bukeles Regierung– wie auch bereits die Vorgängerregierungen unterschiedlicher politischer Couleur – mit den Anführern der Gangs Geheimverhandlungen führte. Reportagen von El Faro vom September 2020 und August 2021 belegen mit offiziellen Dokumenten und Fotografien, dass die amtierende Regierung praktisch seit Amtsantritt mit inhaftierten Anführern der Maras verhandelt hat. Eine Reportage, die von BBC Mundo Ende April 2022 veröffentlicht wurde, bestätigte diese Treffen anhand von Aussagen der Mara Barrio 18-Sureños. Nach den Recherchen sollen gegen die Zusicherung der ranflas (der nationalen Führungsriegen der Gangs), die Mordraten zu senken sowie bei den Wahlen Anfang 2021 die Regierungspartei zu unterstützen, Hafterleichterungen und ökonomische Anreize zugesagt worden sein. Dies hatte dazu geführt, dass das US  Department of State Sanktionen gegen die beiden Verhandlungsführer der Regierung verhängte: den Gefängnisdirektor und Vizeminister für Sicherheit und Justiz, Osiris Luna, sowie den Direktor des Sozialprogramms Tejido Social, Carlos Marroquin.

Auch die Staatsanwaltschaft in El Salvador hatte unter der Führung des damaligen Generalstaatsanwaltes Raúl Melara begonnen, die Geheimverhandlungen der Regierung mit den kriminellen Banden zu untersuchen. Die Untersuchungen fanden jedoch Anfang Mai 2021 ein abruptes Ende, nachdem die Regierung in einer verfassungswidrigen nächtlichen Hauruck-Aktion – abgesegnet durch das Parlament – Melara durch den regierungstreuen Staatsanwalt Rodolfo Delgado austauschen ließ, gemeinsam mit allen Richter*innen des Verfassungsgerichts. Die Verantwortung für den sogenannten Fall Catedral blieb in den Händen von Delgado, der die Anti-Mafia-Sonderkommission GEA auflöste und inzwischen sogar ein Strafverfahren gegen die sieben Staatsanwälte eingereicht hat, die die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung Bukele untersucht hatten. Trotz des umfangreichen Beweismaterials und der belastenden Aussagen des geschassten Sonderermittlers Germán Arriaza gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters bestreitet die Regierung hartnäckig, dass die Verhandlungen mit den kriminellen Banden stattgefunden haben, und droht den Journalist*innen von El Faro, die als „Informationsterroristen“ gebrandmarkt werden, mit Strafrechtsprozessen. So auch den Brüdern Oscar und Juan José Martínez, die in ihrem Buch „El niño de Hollywood: una historia personal de la mara salvatrucha”, anhand einer einzelnen Biografie eine bedrückende Aufnahme der politischen Ökonomie der Gewaltstrukturen der Maras liefern. Juan José Martínez befindet sich nach Todesdrohungen inzwischen  außer Landes.

Der Ausnahmezustand als Vorwand für die Ausschaltung von Kontrollen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge…

Die Verlängerung des Ausnahmezustands im April wurde von einer Reform begleitet, die es der Regierung erneut ermöglicht, sich über die gesetzlichen Regelungen bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen hinwegzusetzen. Dies erinnert an die Situation 2020, als die Regierung zu Beginn der Pandemie alle Kontrollen für öffentliche Anschaffungen abschaffte und damit der Korruption Vorschub leistete. Nach Angaben der – inzwischen abgesetzten – Staatsanwälte wiesen bis Ende 2020 zwei Drittel aller staatlicher Einkäufe Unregelmäßigkeiten auf. Eine Reportage von El Faro hatte aufgedeckt, dass der Unterhändler des Paktes mit den Maras, Gefängnispräsident Osiris Luna, die Notstandsbefugnisse während der Pandemie genutzt hatte, um 1,6 Millionen US-Dollar, die eigentlich für Lebensmittelhilfe vorgesehen waren, zu veruntreuen. Bereits zuvor waren die Befugnisse des Nationalen Instituts für den Zugang zu Öffentlicher Information (IAIP) stark beschnitten worden. Die Transparenzbeauftragte Liduvina Escobar sah sich nach Drohungen gezwungen, gemeinsam mit ihrer Familie ins Exil zu gehen.

… und für die Stummschaltung der Zivilgesellschaft

Leider deutet daher alles darauf hin, dass sich der rapide Abbau rechtsstaatlicher Strukturen und Kontrollen in El Salvador unter der Regierung Bukele noch weiter beschleunigt und der Ausnahmezustand zur Norm wird.  Nach Nicaragua und Venezuela ist El Salvador das Land, das nach Angaben des jüngsten Berichts von Freedom House, den stärksten Rückschritt hinsichtlich demokratischer Institutionen und Rechte erlitten hat. Nach der Gleichschaltung von Justiz und Staatsanwaltschaft am 1. Mai 2021 werden nun der autonome Journalismus und zivilgesellschaftliche Organisationen, die nicht auf Regierungslinie liegen, zunehmend Opfer von Einschüchterungskampagnen. Zwar konnte ein Agent*innengesetz, das auf die Stummschaltung von Presse und Zivilgesellschaft ausgerichtet war nach massivem internationalen Protest (zunächst einmal) gestoppt werden, die Kriminalisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen nimmt jedoch zu.  Ende April forderte Arbeitsminister Roland Castro die Gewerkschaften auf, die traditionellen Demonstrationen zum Internationalen Tag der Arbeit abzusagen. Wer trotzdem marschiere, sei ein Sympathisant der Banden. Der Einschüchterungsversuch war nur teilweise erfolgreich. Zwar konnte der Minister die Demonstrationen nicht verhindern, die Beteiligung war jedoch deutlich schwächer als im Vorjahr. Der Popularität des Präsidenten und seiner Partei hat dies bisher kaum geschadet, ein Indikator der den bedenklichen Zerfall demokratischer Kultur in der von Gewalt und Armut geprägten Nach-Bürgerkriegsgesellschaft deutlich macht.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de