Putins Rache, Idlibs Hunger

Kommentar

Jahrelang haben Zivilist*innen in Syrien alle sechs Monate um die Zukunft der humanitären Versorgung bangen müssen, seit heute Morgen ist das entscheidende UN-Mandat für grenzüberschreitende UN-Hilfen nach Idlib ausgelaufen. Der Region droht eine Hungersnot, aber auch die medizinische Versorgung, Bildungsprogramme oder die Arbeit gegen sexualisierte und geschlechterbezogene Gewalt stehen auf dem Spiel.

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Atmeh Refugee Camp in Idlib, Syrien.

„Gestern habe ich den letzten UN-Konvoi im Rahmen der Resolution 2585 über die Grenze fahren sehen,“ schrieb der stellvertretende Koordinator für Humanitäre Hilfe in Syrien, Mark Cutts, am Samstag auf Twitter, „es ist zutiefst besorgniserregend, dass der Sicherheitsrat bei seinem jüngsten Treffen nicht in der Lage war, sich zu einigen … aber noch ist das letzte Wort darüber nicht gesprochen!“ Heute Nacht ist das Mandat ausgelaufen.

Damit brechen auf einem Schlag Hilfen von 423 Millionen Dollar weg. Soviel hätten die Vereinten Nationen bis Ende 2022 noch in Nordwestsyrien verausgaben sollen, den Großteil für Nahrungsmittel. Für die Bewohner*innen bedeutet dies: Hunger in einem Landstrich, der doppelt so viele Menschen beherbergt wie vor dem Krieg. Denn dass eine Versorgung, wie von Russland gefordert, über Damaskus funktioniert, ist illusorisch. Das haben die Jahre zwischen 2012 bis 2018 deutlich vor Augen geführt: Damals belagerte das syrische Regime Millionen von Menschen, enthielt ihnen Nahrungsmittel und medizinische Versorgung vor. Es gab nur einem Bruchteil der von den Vereinten Nationen beantragten Hilfslieferungen statt, schrieb die Bedarfslisten um und entfernte einige der grundlegendsten lebensrettenden Mittel aus den Konvois: zum Beispiel sterile Handschuhe und Medikamente gegen Lungenentzündung und Durchfall; Antibiotika wurden gebraucht, geliefert wurde stattdessen Läuseshampoo.

Russland nutzt jede Gelegenheit, um humanitäre Hilfe einzuschränken

Im Jahr 2014 verabschiedete der Sicherheitsrat einstimmig eine Resolution, die eine grenzüberschreitende humanitäre Hilfe absichert. Doch seit das Regime 2018 den Großteil der ehemals von Rebellen kontrollierten Gebiete wieder unter seine Kontrolle gebracht hat, nutzt Russland jede Gelegenheit, das Mandat weiter einzuschränken. Drei der ursprünglich vier Grenzübergänge ließ es bereits in vorherigen Verhandlungsrunden schließen, die Verlängerung des Mandats für Bab al-Hawa im Sommer 2021 wurde nach einer langen Zitterpartie erst in letzter Minute verabschiedet. Von Russland hineindiktiert wurde, dass es Berichte über Fortschritte bei der konfliktlinienüberschreitenden Versorgung geben und ein besonderes Augenmerk auf „early recovery“ liegen müsse, also „Projekten in der Frühphase der Wiederherstellung“, die mehr sind als humanitäre Hilfe, aber weniger als Wiederaufbau. Russland ist erpicht darauf, eine neue Seite aufzuschlagen und die Normalisierung mit Assads Regime voranzutreiben. Syrien soll nicht mehr als Kriegsgebiet erscheinen, um das Investoren einen Bogen machen. So beschreibt es auch der Koordinator einer internationalen Hilfsorganisation in der Türkei: „Moskau möchte weg von der ‚protection language‘, die nahelegt, dass Menschen in Syrien weiter schutzbedürftig sind, es möchte, dass über Syrien als Nachkriegsland gesprochen wird.“ Er hält es für unrealistisch, die UN-Hilfen auf anderem Wege aufzufangen: „Mit über 1000 Lastwagen ist Hilfe aus der Türkei geliefert worden; aus den Regimegebieten waren es vielleicht 25 bis 40, wenn es hochkommt. Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Problematisch war auch, dass es keinerlei Bemühungen gab, sich mit uns zu koordinieren. So sind die Lieferungen zum Teil genau an von uns bereits versorgte Orte geschickt worden, denn von der Regimeseite aus gab es ja auch keine Einschätzung und Expertise, was wo gebraucht wird.“  

Es geht nicht nur um Nahrungsmittel

Es geht jedoch um weit mehr als logistische Fragen oder die reine Versorgung mit Nahrungsmitteln: „Essenspakete sind nicht alles. Grenzüberschreitend können auch Bildung und andere sensible Bereiche unterstützt werden, konfliktlinienüberschreitend nicht – Krankenversorgung, alles, was zu Schutz im weitesten Sinne gehört. Hier braucht es Vertrauen, und gerade das besteht zum Regime und zum Syrischen Roten Halbmond nicht. Deswegen waren auch jetzt die Hilfstransporte aus Damaskus umstritten, denn sie haben dem Regime Einblicke und Zugang zu sensiblen Informationen gewährt.“ Sexualisierte und geschlechterbezogene Gewalt oder Kinderehen sind ebenfalls wachsende Probleme, bei denen nicht vorstellbar ist, dass hierzu existierende Programme mittels konfliktlinienüberschreitender Hilfe aufgefangen werden können.

Das Regime ist außerordentlich interessiert daran, dass alle UN-Hilfe über Damaskus fließt – nicht aber, diese auch weiterzuleiten. Syrien-Expertin Natasha Hall attestiert dem Regime „eine unglaublich systematische Art, Gelder abzuzweigen, bevor sie überhaupt zum Einsatz gekommen sind.“ In einer umfassenden Studie für das amerikanische Center for Strategic and International Studies hat sie letztes Jahr dargelegt, dass über 50 Prozent der Mittel, die so nach Syrien hineinkommen, durch dubiose Wechselkurspolitik direkt in den Taschen des Regimes verschwinden und Hilfsbedürftigen gar nicht erst zugute kommen. 60 - 80 Prozent dessen, was indes übrigbleibt, fließen an den regimenahen Syrischen Roten Halbmond und die Hilfsorganisationen der Frau des Präsidenten, Asma al-Assad. Klar ist auch schon in der jetzigen Konstellation: Als loyal verstandene Gebiete werden versorgt, andere bewusst vernachlässigt.

Wenn der Sicherheitsrat erneut in dieser Angelegenheit zusammentritt, könnte das Mandat durchaus noch verlängert werden - wenn es nach Russland geht jedoch um maximal sechs Monate. Statt zu warten, bis im Winter ein erneutes Ringen um jedes Komma mit Russland ausbricht, ist es an der Zeit, der toxischen Abhängigkeit von Russlands Zustimmung endlich ein Ende zu bereiten. Es ist absurd, den militärisch maßgeblich Verantwortlichen für das Leid regelmäßig die Erlaubnis abtrotzen zu müssen, humanitäre Hilfe zu leisten.

 


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de