Unsichtbar gemacht - Verdrängung im öffentlichen Raum | digitaler Spaziergang Abschnitt zwei
In diesem Spaziergang beschäftigen wir uns damit, wie von Obdachlosigkeit betroffene Personen aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden – auch in Baden-Württemberg.
Stellvertretend für viele öffentliche Räume, in denen Verdrängung stattfindet, ist hier die Königsstraße in der Stuttgarter Fußgängerzone als Koordinate aufgeführt. Zuerst wollen wir uns aber anschauen, welche Rolle der öffentliche Raum überhaupt in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben spielt. Dafür haben wir mit Prof. Dr. Frank Eckardt gesprochen, der an der Universität Weimar zu dem Thema forscht.
Sichtbar sein im öffentlichen Raum
Öffentliche Räume haben verschiedene Funktionen, die für unser gemeinsames gesellschaftliches Zusammenleben wichtig sind. Im öffentlichen Raum sehen und begegnen sich Menschen, die ansonsten nicht in Kontakt miteinander kommen, weil sie komplett unterschiedliche Lebensstile haben. Dadurch entsteht unter ihnen eine unbewusste Akzeptanz. Sichtbar zu sein im öffentlichen Raum stärkt in uns das Gefühl, in die Gesellschaft integriert zu sein und dazuzugehören.
Leben im öffentlichen Raum
Der öffentliche Raum sollte so gestaltet sein, dass wir uns gerne dort aufhalten. Menschen aus verschiedenen sozialen Gruppen haben dahingehend unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse. Je weniger Privatraum Menschen zu ihrer Verfügung haben, desto eher sind sie auf öffentliche Räume angewiesen, um verschiedene Bedürfnisse zu befriedigen. Das Leben von Menschen, die über gar keinen Privatraum verfügen, wie von Obdachlosigkeit Betroffene, findet größtenteils im öffentlichen Raum statt. Sie müssen hier also auch ganz grundlegende Bedürfnisse befriedigen wie die nach Schlaf, Rückzug oder Sicherheit.
Gestalter:innen des öffentlichen Raums haben einen großen Entscheidungsspielraum, wer wie dort in Erscheinung treten kann.
Wie findet Verdrängung statt?
Betroffene Personen werden nicht nur auf eine Art und Weise aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Auf welchen Ebenen Verdrängung im öffentlichen Raum stattfindet und welche Rolle Behörden, aber auch Mitbürger:innen dabei spielen, erklärt Prof. Dr. Eckardt in diesem Video.
Feindliche und defensive Architektur
Verdrängung ist ein vielschichtiges Thema und findet auf verschiedenen Ebenen statt. Eine dieser Ebenen ist die strukturell-bauliche. Das heißt, dass mit gewissen architektonischen Maßnahmen versucht wird, Personengruppen auf unterschiedliche Weisen zu verdrängen. Dabei kann unterschieden werden zwischen der feindlichen und der defensiven Architektur. Für beide Arten siehst du hier Beispiele. Prof. Dr. Eckardt erklärt im Video, worin genau der Unterschied liegt.
Engere Räume und sinkende Toleranz
Die Wahrnehmung und Behandlung von obdachlosen Menschen im öffentlichen Raum hat sich im Lauf der Zeit gewandelt. Aus Prof. Dr. Eckardts Sicht werden heute obdachlose Menschen hier weniger toleriert. Hier geht es zum Video.
Warum gibt es diese Verdrängungsmaßnahmen?
Viele Menschen nehmen Obdachlose und bettelnde Menschen im öffentlichen Raum als störend wahr. Besonders in Innenstädten, in denen vor allem konsumiert werden soll, wird oft verhindert, dass sich obdachlose Menschen hier länger aufhalten.
Prof. Dr. Eckardt sieht einen Zusammenhang zwischen der sozialen Erwünschtheit von harmonischen, homogenen öffentlichen Räumen und der Tatsache, dass Verdrängungsmechanismen wenig politische Beachtung finden. Regionalpolitiker:innen können seines Erachtens sogar eher damit punkten, wenn alles 'schön' und 'sicher' ist. Verdrängungsmechanismen sind aber nicht allein deshalb problematisch, weil sie Menschen einschränken und diskriminieren, sondern auch weil sie Obdachlosigkeit insgesamt unsichtbarer machen und damit auch das Problembewusstsein dafür verringern.
Wer wirkt mit?
Wenn wir uns nun alle verschiedenen Verdrängungsmaßnahmen anschauen, können wir verschiedene Akteur:innen festmachen, die dabei eine Rolle spielen. Dazu gehören unter anderem: Institutionen wie die Stadtverwaltung, insbesondere Bürgermeister:innen, Sicherheitskräfte, die Polizei, das Ordnungsamt oder die Müllabfuhr. Ladenbesitzer:innen oder Café- und Restaurantbesitzer:innen können auch beteiligt sein, wenn sie sich beispielsweise über obdachlose Menschen bei Ämtern oder der Polizei beschweren. Schlüsselfunktionen haben Institutionen wie kriminalpräventive Räte, die es in vielen Städten gibt und die zum Beispiel die Stadtverwaltung bitten, dass die Polizei an gewissen Orten häufiger kontrolliert.
All diese Akteure handeln jedoch in der Annahme, dass ihre Position von den Wähler:innen oder Kund:innen unterstützt wird und in dem Wissen, dass sich obdachlose Menschen kaum zur Wehr setzen können.
Dieser Artikel ist der zweite Abschnitt des digitalen Spaziergangs "Unsichtbar gemacht - Verdrängung von obdachlosen Menschen im öffentlichen Raum".
Zum ersten Abschnitt: Verdrängung aus dem öffentlichen Raum - Erfahrungsberichte
Zum dritten Abschnitt: Die Ulmer Nester
Zum vierten Abschnitt: Unfertige Orte
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