Krieg in der Ukraine: Die Auswirkungen sind dramatisch

Interview

Wie der Krieg in der Ukraine die globale Ernährungssicherheit bedroht – ein Interview mit Dr. Martin Frick, dem Leiter des Berliner Büros des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP).

Russland und die Ukraine sind bedeutende Nahrungsmittelproduzenten. Etwa ein Drittel der weltweiten Weizenexporte kommen aus diesen beiden Ländern. Sie sind wichtige Handelspartner für Länder wie Ägypten, Indonesien, Nigeria und Sudan, in denen bereits jetzt Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Die Lebensmittelpreise sind seit Juni 2020 weltweit fast kontinuierlich gestiegen. Weitere Preiserhöhungen bei Fortdauer des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine könnten zu größerer Nahrungsmittelinstabilität und Hunger führen - nicht nur in der Ukraine, sondern weltweit.

Dr. Martin Frick ist Leiter des Berliner Büros des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP)

Putins Angriffskrieg auf die Ukraine kam für viele Menschen sehr überraschend. Wie reagiert das WFP darauf?

Das WFP ist institutionell auf solche Schocks vorbereitet, das ist unser Job. Hundertfünfzig Kolleginnen und Kollegen sind aktuell auf dem Weg an die Grenzen der Ukraine. Wir haben bereits wenige Tage nach Beginn des Krieges begonnen, die ersten 10.000 Brote in Charkiv zu verteilen und bauen jetzt in drei ukrainischen Städten unsere Infrastruktur auf. Da wir so viel Hilfsbereitschaft und Unterstützung an den Grenzen sehen, konzentrieren wir uns als WFP auf den Aufbau einer starken Lieferkette für Nahrungsmittel in die Ukraine hinein. Damit können wir die Bevölkerung unterstützen, wenn sich die Situation weiter zuspitzt – und genau danach sieht es ja aus.

Russland und die Ukraine sind bedeutende Nahrungsmittelproduzenten – 29% der weltweiten Weizenexporte kommen aus den beiden Ländern. Welche Folgen hat dieser Krieg für die weltweite Ernährungssicherheit?

Die Auswirkungen sind dramatisch. Wir haben bereits einen weltweiten Hunger-Krisengürtel und die Corona-Pandemie hat weitere 141 Millionen Menschen in akuten Hunger getrieben. Jetzt beobachten wir, wie die Weizenpreise explodieren – seit Kriegsbeginn sind die Preise um fast ein Drittel gestiegen. Dieser Trend hat bereits vorher begonnen. Der Weizenpreis auf dem Weltmarkt war gegenüber dem Vorjahr schon um ein Drittel höher. Das führt dazu, dass die Länder, die die größten Schwierigkeiten bei der Nahrungsmittelversorgung haben, weiter in Richtung Hunger abrutschen könnten.

Welche Länder, Regionen und Bevölkerungsgruppen sind am stärksten betroffen?

Sehr stark betroffen ist der Mittlere Osten. Der Libanon bezieht mehr als 50% seiner Weizenimporte aus der Ukraine. In Tunesien sind es mehr als 40% und im krisengeschüttelten Jemen 22%. Wir sehen die Folgen zum Beispiel am ohnehin schon destabilisierten Horn von Afrika, aber auch in Gegenden wie dem Sahel. Wir leben in einer globalisierten Welt, da schlägt so ein Schock auch weltweit durch. In den Gesellschaften sind es wie immer die Ärmsten der Armen, die das am meisten zu spüren bekommen, weil sie bereits jetzt den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen.

Die weltweiten Lebensmittelpreise sind seit Juni 2020 fast kontinuierlich gestiegen, der FAO-Lebensmittelpreisindex ist jetzt so hoch wie seit 2011 nicht mehr. Wo liegen die Ursachen dafür?

Konflikte sind nach wie vor die Hauptursache. Aber wir haben bereits vor dem Krieg in der Ukraine die Auslöser von steigenden Lebensmittelpreisen als „die drei großen C“ zusammengefasst: „Conflict“, „Climate Change“ und „COVID-19“. Am 28. Februar wurde der Fortschrittsbericht der Arbeitsgruppe II des UN-Weltklimarats veröffentlicht. Er zeichnet ein dramatisches Bild bezüglich Nahrungsmittelsicherheit, Armut und Verwundbarkeit. Zu den Ursachen für die drohende Hungersnot in Afghanistan gehören beispielsweise drei aufeinanderfolgende Dürreperioden. Diese wiederum sind auch darauf zurückzuführen, dass durch den Klimawandel zu wenig Eis und Schnee in den Bergen bleibt, so dass im Frühling Wasser für die Landwirtschaft fehlt. Auch in Mittelamerika beobachten wir langanhaltende Dürren, durch die sich die Ernährungssituation weiter verschlechtert.

Nicht nur die Preise für Getreide, auch die Preise für Ölsaaten sind so hoch wie noch nie. Auch hier beobachten wir Entwicklungen, die durch den Klimawandel angetrieben werden. Zu den „drei großen C“, über die ich gesprochen habe, kommt noch ein viertes C dazu – die „Costs“. Uns laufen die Kosten davon – nicht nur bei den Nahrungsmitteln, sondern auch bei Treibstoffen. Die oft energieintensive Landwirtschaft ist abhängig von Diesel, aber auch die Preise für Kunstdünger gehen durch die Decke. Für uns als Organisation, die auch im großen Maßstab Logistik betreibt, sind die Treibstoffpreise ein enormer Faktor. Er führt leider dazu, dass wir mit dem Geld, das uns zur Verfügung steht, weniger Menschen erreichen können.

Das bedeutet, dass sich die steigenden Preise auch auf die Versorgungsketten des Welternährungsprogramms auswirken?

Absolut, wir haben bisher mehr als 50% unseres Weizens aus der Ukraine bezogen, aber auch Lebensmittel wie Öl und andere Produkte. In Tonnen gerechnet, war die Ukraine bis jetzt unser größter Nahrungssmittellieferant. Wir versuchen immer mit unseren Einkäufen die lokalen Märkte zu stärken, aber in vielen Situationen müssen wir auch auf dem Weltmarkt einkaufen und dann trifft uns so ein Krieg wie jetzt in der Ukraine natürlich direkt. Wir können das kompensieren und zu höheren Preisen andere Bezugsquellen nutzen. Viele arme Menschen, die gerade so über die Runden kommen, können das natürlich nicht.

In der Ukraine beginnt jetzt die Zeit der Aussaat. Haben Sie Kontakt zu Ihren Lieferanten in der Ukraine?

Ja, wir haben sehr intensiven Kontakt. Die Verteilung von Nahrungsmitteln erfolgt im Wesentlichen durch ukrainische Stellen. Sie sind immer noch in der Lage, Nahrungsmittel tatsächlich in die Familien zu bringen. Wir hatten in der Ukraine beispielsweise eine größere Lieferung Sonnenblumenöl und gelbe Erbsen gekauft, die noch im Land ist – diese Lieferung widmen wir jetzt als Nahrungsmittelhilfe für die ukrainische Bevölkerung um. Wir sind außerdem dabei, 500 Tonnen Weizenmehl nach Kiew zu schicken. Es ist natürlich absurd, Weizenmehl in ein Land bringen zu müssen, dass eigentlich ein gewaltiger Weizenexporteur ist. Auch daran sieht man, wie zerstörerisch und brutal dieser Krieg ist.

Preissteigerungen bei Lebensmitteln, die durch Kriege verursacht werden, tragen zu weiteren Konflikten bei – auch an Orten, die selbst nicht in den ursprünglichen Krieg verwickelt waren. Rechnen Sie mit neuen Unruhen, Konflikten und Hungerkrisen?

Das wird im Wesentlichen davon abhängen, wie schnell es gelingt, die Ukraine zu befrieden. Wir hatten zum Beispiel 2010 die großen Torffeuer vor Moskau. Der damalige russische Präsident Medwedew hat infolgedessen einen Export-Stopp für Getreide verhängt. Das war nicht der Grund für den arabischen Frühling, aber ganz sicher einer der Auslöser. Der Brotpreis ist seit der Antike ein extrem politischer Preis und wenn Menschen über die Grenze der Armut und des Hungers gedrückt werden, bringt das natürlich auch Instabilität mit sich.  

Welche systemischen Ansätze verfolgt das WFP, um vulnerable Gruppen zu stärken, auf Krisen zu reagieren und Zugang zu Nahrung zu sichern?

Wenn Sie jetzt in meinem Büro wären, könnten Sie ein großes Foto sehen, das eines unserer Projekte in Burkina Faso zeigt. Frauen graben da mit einfachsten Mitteln Halbmonde in die trockene Erde. Wenn Regen fällt, wird damit die Abflussgeschwindigkeit verringert und das Wasser kann besser in den Boden einsickern. Im Zentrum dieser Halbmonde graben die Frauen dreieckige Vertiefungen, die mit Stroh und Dung gefüllt werden. Das wirkt wie ein Schwamm. In der Mitte dieser Vertiefung wird dann ein Baumsetzling eingebracht. Diese unglaublich einfache Technik ermöglicht es den Bäumen, zu wachsen und zu überleben. Wenn die Bäume groß genug sind, sorgt ihr Schatten dafür, dass ihre Umgebung kühler und feuchter wird und wieder Landwirtschaft betrieben werden kann. Solche Agroforst-Systeme funktionieren hervorragend, um verlorenes Land wieder urbar zu machen – und genau da müssen wir ansetzen.

Die Zahlen aus dem Fortschrittsbericht des Weltklimarats, den ich vorhin erwähnt hatte, sind dramatisch. Wir brauchen dringend integrierte Lösungen, die Ernährungssicherheit wiederherstellen, die Rolle von Frauen stärken, das Grundwasser schützen und Klimaanpassung und Resilienz bewirken.

Welche Rolle spielen lokale Märkte für die Ernährungssicherheit?

Lokale Märkte spielen eine ganz wesentliche Rolle, denn 80% der Welternährung wird immer noch von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern produziert. Wenn wir Klimagerechtigkeit ernst nehmen, dann müssen wir zuallererst Kleinbäuerinnen und Kleinbauern unterstützen. Die Covid-Krise und die Schockwellen des Ukraine-Konflikts zeigen, dass wir resiliente lokalisierte Nahrungsmittelsysteme brauchen.

Was ist aus Ihrer Sicht momentan am dringlichsten?

Das aller Allerwichtigste ist Frieden. Die weltweite Solidarität, die wir momentan beobachten, wirkt sich natürlich auch politisch aus. Ich komme aus der Diplomatie, so etwas wie die „Uniting for Peace“-Resolution in der Generalversammlung der Vereinten Nationen habe ich noch nicht erlebt. Das kann man als Staat nicht ignorieren.

Ich war gestern Abend wieder am Berliner Hauptbahnhof. Die Wellen der Hilfsbereitschaft berühren mich sehr. Diese Hilfsbereitschaft brauchen wir leider nicht nur in der Ukraine, sondern global. Wir können auch all die anderen Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, nicht vergessen.