Unter der Paule

Ein Film von Uwe Kassai

Zum Trailer | Zum Film

Simon, Iva und Marvin haben kurz nach Beginn der Pandemie den Paule-Club gegründet. Unter der Paulinenbrücke in Stuttgart, dort wo Substituierte, Obdachlose und Menschen in prekären Lebenssituationen so etwas wie ein Wohnzimmer haben, organisieren sie nun trotz aller Corona-Umstände einmal am Tag eine Essensausgabe auf der Straße. Substituiert, Hartz4-versorgt und in vielem bevormundet nehmen sie diese Sache selber in die Hand, fangen an sich zu organisieren.

Der Dokumentarfilm erforscht, wie in Coronazeiten Menschen auf der Straße zu ihrem Essen kommen, aber auch, wie sich das Leben auf der Straße durch Corona verändert hat. Essen ist im reichen Stuttgart nicht für alle Menschen selbstverständlich, wohnen ebensowenig.

Kurzfilmprojekt Neue Normalität. Leben in der Pandemie.

Film und Gespräch am 29.09.2021 um 19.30 Uhr
Ort:  Kultur Kiosk | Lazarettstr. 5 | 70182 Stuttgart

Mit Heike Schiller, Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg und Uwe Kassai, Filmemacher sowie Simon Wittke und Marvin Kouabenan, Protagonisten des Films.

Mann, der mit seiner Hand und seinem Finger auf den Betrachter zeigt

Ein Mannschaftswagen hält auf dem Gehweg, die Schiebetüren öffnen sich und 8 Polizisten steigen aus, sie streifen sich noch die Einweghandschuhe über und kreisen eine Gruppe Substituierter ein, die an der Paulinenbrücke ihren Treff haben. Deren Reaktionen sind gelangweilt, genervt, manche von ihnen essen gerade noch: wieder einmal wird sie ein Truppe junger Polizeischüler der Polizeischule Göppingen filzen, wird man Platzverweise aussprechen und Strafen wegen der Verstöße gegen die Coronaverordnungen erlassen.

Marvin und Simon werden in Ruhe gelassen. Sie stehen knapp daneben und haben ihre Fahrradrikscha wieder mit den Thermokisten bepackt, in denen sie die verbliebenen Essen zu weiteren Stationen im Stadtgebiet bringen werden. „Das ist Nötigung“ nuschelt Simon. „Obdachlosen Platzverbote zu erteilen und sie nach Hause zu schicken. Clever“, frotzelt Marvin. Aber vorher gibt’s Leibesvisitationen.

Die beiden haben angefangen Essen an Stuttgarts Junkis, Alkis und Obdachlosen zu verteilen, nachdem im April Corona bedingt Mittagstische der Kirchen geschlossen wurden, die Tafeln Personalprobleme bekamen und sich an den verbliebenen Ausgabestellen lange Schlangen bildeten. Zuerst haben sie ein paar Lastenräder zur Verfügung gestellt bekommen, dann hat der Leiter der Küche des .s Essensspenden organisiert, hat die Vesperkirche noch dazugeholt. Und es ging los. 

Marvin und Simon sind selber substituiert, was sie aber nicht vom selbstbestimmten Handeln abhält. Erst recht nicht seit Corona. „So zwischen 11 und 14 Uhr gibt’s ein Fenster, wenn du dein Zeug bekommen hast, da ist man dann einigermaßen fit.“ Simon ist groß, kräftig, hat eine Glatze. Ein bisschen Hooligan, aber eher gentle giant. Marvin dagegen wirkt fast kindlich, seine mehr als 30 Jahre sieht man ihm nicht an, dafür ist er sarkastisch und schlagfertig. Aber beide wollen etwas verbessern, sogar helfen. Das hilft auch ihnen.

Simon und Marvin haben dann noch weitere zum Handeln animiert : Harry, der 13 Jahre obdachlos war („Selbst bei minus 20, immer draussen!“) und der jetzt Harrys Bude leitet, ein Container aus dem Spenden und foodsharing-Lebensmittel ausgegeben werden, und Harry schaut, dass auch jeder was kriegt, dass nicht einer alle Tomaten hamstert. Wer was hat, darf spenden, wer nix hat, kriegt trotzdem was. Und Iva, die von Anfang an mit dabei war, und deren Revier der Stuttgarter Süden ist. Sie weiß, wo sich Junkies verstecken und auf ein warmes Essen hoffen, schaut in Hinterhöfe und andere Versteck. Sowie Thomas Körner, der mit rauschendem Bart auf seinem Lastenrad durch den Verkehr rauscht und 30 Essen dabei hat, und eher auf seine eigene Portion verzichtet, als jemanden ohne zurück zu lassen. „Hungern verboten!“ ist seine Devise.

Thomas weiß wie es sich anfühlt, wenn man den ganzen Tag nichts isst und trinkt: „Zum Beispiel, weil es auf der Straße keine sanitären Einrichtungen gibt, man seine Würde behalten und so selten wie möglich die Notdurft in der Öffentlichkeit verrichten möchte. Und dann darfst’ halt nix trinken oder essen.“ Apropos Öffentlichkeit:

„Seit Corona sind die auf der Straße’ noch sichtbarer geworden. Und die Polizei hat `eh weniger zu tun, dann schnappen sie sich halt die auf der Straße. Platzverweise, Verwarnungen, Bußgeld, sprechen Strafen aus, wenn ein paar zusammen rumhängen. Und wer nicht bezahlen kann, geht halt in den Knast. Ha! Ein paar Tage lang was zu essen. Und warm ist es da auch. Aber es nervt.“

Mit Corona wurde das Thema Obdachlosigkeit nicht besser, prekäre Situationen haben sich nochmals verschärft und die Reaktion der Stadt, der Politik, der Ämter, der Kirchen sind oft kleinteilig, umständlich, kommen zu spät. Hier verschärfen sich Notlagen. Das Leben auf der Straße, die Schicksale der Substituierten, von Menschen mit psychischen und sozialen Problemen wird schwieriger, da sind weder Gabenzäune noch Wohlfahrtsindustrie ein Ausweg. Stattdessen gibt es aber Menschen, die sich selbst helfen, die sich zu behaupten versuchen und dann auch Leute und Organisationen, die unterstützen: die Bürgerstiftung, die foodsharing Bewegung, die Stadtlücken, die Landesarmutskonferenz, auch Nachbarn, sogar Polizisten.

Aber die meisten laufen vorbei, schauen weg, haben Angst. Diese Dokumentation gibt einigen von ihnen eine Stimme und würdigt die Ausdauer, mit der sie sich behaupten. Corona macht ihnen nicht wirklich Angst, dafür haben sie schon zu viele Schwierigkeiten. Aber andererseits muss man sich ja nicht noch mehr aufbürden. Und so nehmen sie das Heft des Handelns in die Hand und schauen, wie man wenigstens etwas in den Bauch bekommt. 


Regie und Kamera Uwe Kassai
2. Kamera und Ton Severina Stainos (Studentin Merz Akademie)
Schnitt und Postpro Julia Marber (Studentin Merz Akademie)